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"Das belastet alle"  "Das belastet alle" : Wie ein früheres Merseburger Pfarrerspaar die US-Wahl miterlebt

Von Robert Briest 09.11.2020, 15:00
Die Stimmen sind abgegeben, der Wahlkampf geht weiter
Die Stimmen sind abgegeben, der Wahlkampf geht weiter imago/ZUMA Wire

Washington/Merseburg - Die Auszählung der Wahlstimmen, die den zukünftigen US-amerikanischen Präsidenten bestimmen sollen, dauerte Tage, bis am Sonntag deutscher Zeit feststand: Herausforderer und ehemaliger Vizepräsident von Barack Obama, Joe Biden, konnte die zum Sieg über Amtsinhaber Donald Trump benötigten 270 Stimmen für sich gewinnen. Damit wurde er offiziell zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.

„Eigentlich leben wir hier seit 2015 im Dauerwahlkampf"

„Alle wurden auf die Geduldsprobe gestellt“, konstatiert Martin Eberle, für den 2020 noch etwas anders ist als bei den letzten US-Wahlen 2016. Damals war sein Arbeitsplatz der Merseburger Dom, heute ist es die Deutsche Evangelische Gemeinde vor den Toren von Washington. Deren Mitglieder sind meist Deutsche oder US-Amerikaner deutscher Abstammung. Sie alle würde das Thema Wahlen bewegen. „Eigentlich leben wir hier seit 2015 im Dauerwahlkampf. Gerade im Umfeld der Wahl gibt es aber Leute, die Sorgen und Fragen haben.“

Deshalb, so berichtet der Geistliche, habe er eine Andacht zur Wahl gehalten. Digital. Seit März finden Gottesdienste wegen Corona nur noch online statt. Im Süden von Maryland, wo die Gemeinde ihren Sitz hat, gelten nach wie vor strenge Regeln, auch mit weitreichender Maskenpflicht. „Die Leute halten sich daran.“

Merseburger Pfarrerpaar bemerkt zunehmend eine gespaltene Gesellschaft

Einigkeit, an die in politischen Fragen nicht zu denken ist. Politik polarisiert in den USA. Eberle sieht in der Gesellschaft ein Ringen um Zusammenhalt. Die Frage, wie Gräben überwunden werden können, beschäftige seine Gemeindemitglieder. „Für viele ist es schrecklich, dass es diese politischen Gräben gibt, die teilweise auch durch Familien verlaufen. Mitglieder berichten mir, dass sie zu Hause nicht über Politik reden würden, weil sie sonst nicht mehr an einem Tisch sitzen könnten. Das belastet alle.“

Diesen Eindruck hat auch Eberles Frau, Katja Albrecht, die früher Pfarrerin in Schladebach war, gewonnen. Ihre zweisprachige Gemeinde liegt nur fünf Minuten vom Weißen Haus entfernt. Dort wünscht sich eine große Mehrheit einen anderen Nachbarn als Donald Trump.

Viele ihrer Gesprächspartner seien fassungslos, dass das Ergebnis so knapp ist

Lediglich fünf Prozent der Wähler in der Hauptstadt stimmten für den republikanischen Amtsinhaber. Die Stadt sei der politischste Ort der USA, schildert Albrecht, viele ihrer Gemeindemitglieder arbeiteten für Regierungsbehörden. Die Hängepartie nach der Wahl sei daher ein „riesiges Thema“. Viele ihrer Gesprächspartner seien fassungslos, dass das Ergebnis so knapp ist.

Viele schämten sich auch für das Bild, das die USA nun im Ausland abgeben würden. „Die Leute, die von einer Führungsfigur gewisse Charaktereigenschaften erwarten, eine Orientierung nicht nur am eigenen Interesse, sind enttäuscht, dass so viele Amerikaner das nicht interessiert.“ Sie haben für Trump gestimmt.

Trump sei ein Macher und ein einfacher Weg Bürokratie aufzubrechen

Thomas Buchanan versucht eine Antwort zu geben, auf die gerade für Europäer so schwer verständliche Frage, warum der Amtsinhaber trotz offen zur Schau getragenem Rassismus und Sexismus noch immer so große Zustimmungswerte auf der anderen Seite des Atlantiks erfährt. Der emeritierte Professor für grafische Datenverarbeitung der Hochschule Merseburg sieht einen Grund in der Langwierigkeit politischer Prozesse, zu der Trump für seine Wähler eine Alternative darstelle: „Die Leute haben große Lust, dass etwas geschieht. Sie sehen in Trump einen Macher, eine einfache Lösung aus der Bürokratie auszubrechen“, wagt Buchanan ein Psychogram seiner ehemaligen Landsleute.

Der ursprüngliche New Yorker lebt seit vielen Jahren in Deutschland, hat mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft und ist in den Staaten nicht mehr wahlberechtigt. Dennoch verfolgt er - wer tue das nicht - intensiv die Auszählungen per Internet, Fernsehen, deutschen und amerikanischen Zeitungen - vor allem den regionalen aus Pennsylvania, einem der verbliebenen „Battleground states“, wie die US-Medien die umkämpfen Staaten martialisch getauft haben. Seine Hoffnungen auf einen deutlichen Sieg der Demokraten, so viel steht bereits fest, haben sich nicht bewahrheitet. 

Stimmung in Washington aufgeladen - Bidens Aufgabe sei Gräben zu schließen

Pfarrer Eberle wagt dagegen keine Prognose. Das würden nicht mal die US-Medien. Die Forderungen nach Neuauszählungen und Klagen könnten sich über Monate hinziehen. Wie lange, hänge auch von den Äußerungen der Kandidaten und anderen Politikern ab.

Die Stimmung in der Metropolregion Washington sei jedenfalls aufgeladen, berichtet Eberle, auch wenn dort keine Gewalt in der Luft liege. Als große Aufgabe, die auf Joe Biden zukommt, sieht der Pfarrer, die Gräben im Land zu schließen - zumindest Donald Trump traut er dies nicht zu. (mz)