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Buchvorstellung Buchvorstellung: Erinnerungen an den 17. Juni 1953 in Merseburg

17.06.2016, 15:07
Buchcover "Geschichten aus dem Leseturm II"
Buchcover "Geschichten aus dem Leseturm II" Peter Wölk

Merseburg - Die Merseburger Autorin Ingeborg Schmelz hat mehrere Erinnerungen zum neuen Buch „Geschichten aus dem Leseturm II - Merseburg zwischen Russenkaserne, Strandkorb und TH“ beigesteuert.

Unter der Überschrift „Merseburger Rückblicke in die 1950er Jahre“ findet man auch eine Passage mit ihren persönlichen Erlebnissen vom 17. Juni 1953, die die MZ an dieser Stelle mit Genehmung des herausgebeneden pkp-Verlages veröffentlichen darf. Das Buch kann in jeder Buchhandlung bestellt werden.

Von Ingeborg Schmelz:

Ein unvergessliches Erlebnis in Merseburg am 17. Juni 1953 erinnert mich an einen düsteren Tag meiner Kinder- und Jugendjahre. Wir Schüler der 7. Klasse in der Grundschule Schkopau hörten teils interessiert, aber die meisten gelangweilt, unserem Gegenwartskundelehrer zu. Die große Pause war längst vorbei, und wir lauerten auf das Klingelzeichen, als wir Lärm von der Straße aus Richtung der Buna-Werke vernahmen. Wegen der Sommerwärme waren die Fenster teilweise geöffnet, und als es draußen lauter wurde, blieb keiner auf seinem Platz. Ein Teil drängte zum Fenster, die anderen zu Tür, durch die unser Lehrer schon verschwunden war. Gerade als ein Mitschüler begeistert rief: Freistunde, erschien der Schulleiter und bat uns, ohne Umwege nach Hause zu gehen. Kaum hatten wir den Klassenraum verlassen, da erreichten die Ersten schon die Straße, auf der sich, vereint zu einem Demonstrationszug, viele Menschen befanden.

Sie schwenkten Transparente und riefen im Sprechchor Parolen gegen die Regierung. Dass Unruhen bevorstanden, vermuteten viele in der Bevölkerung, nachdem der Radiosender „Rias“ die Meuterei der Berliner Bauarbeiter wegen erneuter Normerhöhung verbreitet hatte.

Heimlich hatte ich am vergangenen Abend auch ein Gespräch meiner Eltern belauscht, das sie nach dieser Nachricht geführt hatten. Ihre Vermutung, dass das keine nur Berlin betreffende Situation bleiben werde, traf nun vielleicht schneller ein als erwartet.

Der Zug bewegte sich in Richtung Merseburg. Schnell schnappte ich mein Fahrrad und folgte meiner damaligen Schulfreundin Loni, die schon auf dem Heimweg war. Als ich zu Hause ankam, war niemand da. Das überraschte mich, denn meine Mutter wartete sonst immer mit dem Mittagessen, weil mein Vater nach der Nachtschicht bis nach zwölf schlief. Erst da fiel mir ein, dass ja heute viel früher Schulschluss war. Sicher stand sie noch beim Gemüsehändler an. Schon klopfte es am Fenster, und Loni stand mit ihrem Fahrrad im Vorgarten und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Sie überredete mich, mit ihr nach Merseburg zu fahren, unsere ganze Clique wollte da hin. Nach kurzem Zögern hinterließ ich meinen Eltern eine Nachricht, und schon ging es los. Auf der Halleschen Straße wimmelte es von Menschen. Wir nahmen den Weg in die Merseburger Innenstadt über den Stadtpark.

Das Gebäude, in dem sich die sowjetische Kommandantur (heute das Säulenkrankenhaus) befand, hinter uns lassend, radelten wir weiter die Weiße Mauer entlang. Da hörten wir wieder diesen Lärm aus den Kehlen von hunderten Menschen. Ein grölender Haufen stürmte Richtung Domplatz und schrie unentwegt: „Bonzen – raus“ und „Holt die Bonzen aus den Löchern“.

Spätestes bei diesem Anblick bereuten wir unsere Neugier, aber ein Zurück gab es auch nicht mehr, denn von allen Seiten drängten die Menschenmassen. Wir hatten uns in Richtung der Gaststätte „Zum Kliatal“ zurückgezogen und zitterten vor Angst und Aufregung. An unsere Fahrräder geklammert, mussten wir miterleben, wie in der Poststraße das Gebäude der Staatssicherheit samt dem Gefängnis von der wütenden Meute gestürmt wurde.

Wie aus dem Nichts befand sich in den Händen einiger Männer ein schwerer Balken, mit dem sie gegen die Eingangstür rammten. An der Fassade kletterten zwei kräftige Gestalten empor und schlugen die Scheiben der Fenster ein, anschließend verschwanden sie im Gebäude. Sie öffneten von innen die Tür, kurz bevor diese von der Ramme zertrümmert worden wäre. Wie sich später herausstellte, waren die mutigen Kletterer vom Beruf her Gerüstbauer.

Kaum war die Tür offen, da strömten die Massen in die dahinterliegenden Räume.

Innerhalb kürzester Zeit übersäten Akten, Papiere, Schreibmaschinen, sogar Tische und Stühle den Hof und die Straße vor dem Gebäude. Personen, die hier ihre Tätigkeiten ausübten, beförderte man unsanft, oft mit Tritten ins Gesäß ins Freie. Ein Glück, es gab keinen Schusswaffengebrauch, aber viele Verletzte durch Schläge mit Fäusten und Knüppeln. Mehrere Volkspolizisten aus dem in der Nähe liegenden Revier versuchten, ihre zerrissene Uniform zu retten, und flüchteten in umliegende Hauseingänge.

Nachdem die Gefängnistüren geöffnet wurden, empfingen die auf der Straße randalierenden Leute die befreiten Inhaftierten mit Gejohle und es kam zu Umarmungen, obwohl keiner wusste, umarmt man gerade einen Verbrecher oder einen politisch inhaftierten Häftling. Binnen kurzer Zeit suchten jedoch fast alle Gefangenen das Weite, und als im Hof Flammen loderten beim Verbrennen der riesigen Aktenberge, da hatten Loni und ich nur noch den Wunsch, ins sichere Zuhause zu radeln. Fast rücksichtslos zwängten wir uns durch die Menschenmasse und weil keine Straßenbahnen fuhren, war es gut, dass wir unsere Fahrräder dabeihatten.

Vorwürfe von den Eltern gab es keine, ich glaube, die waren froh, dass sie uns unversehrt und gesund wieder in die Arme schließen konnten.

(mz)