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Lost Places in Anhalt Lost Places in Anhalt: Warum Köthens Kaffeemagnat sich ein Stadtschloss baute

Louis Wittig aus Köthen wurde durch den Verkauf von Gesundheitskaffee reich. Er baute sich eine prunkvolle Villa. Was aus dem Stadtschloss geworden ist.

Von Robert Martin Aktualisiert: 13.06.2023, 15:07
Heruntergekommenes Juwel: die Wittigsche Villa in Köthen.
Heruntergekommenes Juwel: die Wittigsche Villa in Köthen. Foto: Nicklisch

Köthen/MZ - Es ist ein sonniger Montagmorgen, als Louis Wittig auf die Veranda seiner Köthener Villa tritt. Eine neue Woche beginnt, und der Fabrikant macht sich auf den Weg zum Kontor seiner Fabrik, die sich nur ein paar Meter von seinem herrschaftlichen Anwesen entfernt befindet.

Wir schreiben das Jahr 1889 und auf dem Gelände am Rande der Altstadt geht es geschäftig zu. Gerade ist ein Fuhrwerk mit Gerste angekommen, das vor dem Remisengebäude auf der anderen Seite des burgähnlichen Hofes entladen wird. Aus der Gerste wird im Fabrikgebäude hinter dem Kontor Wittigs Gesundheitskaffee hergestellt. Das Geschäft brummt.

In der großzügigen Haupthalle des Kontors, das auch an den Hof angrenzt, wird unter korinthischen Säulen Buch geführt. In diesem Gebäude befindet sich Wittigs Direktorenzimmer, von hier kann er aus großen Fenstern den Blick schweifen lassen: Über den sorgfältig gepflegten Park mit seinem Pavillon zum historischen Wassergraben des Bärteichs, über den die repräsentative Brückeneinfahrt führt...

Einst sorgfältig angelegten Wege von Köthener Villa komplett verwuchert

Zeitsprung. Im Jahr 2020 stehe ich an genau dieser Einfahrt. Vor mir erhebt sich Louis Wittigs Villa. Sie ist noch immer eindrucksvoll, aber die Zeit hat ihr grausam mitgespielt: Der Putz ist an vielen Stellen abgeblättert, die Balkone abgebrochen, die Fenster zugemauert.

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Auch der Park, der die Villa und das Fabrikgelände zur Bärteichseite umrahmt, ist nur auf näheren Blick als solcher zu erkennen. Komplett überwuchert sind die einst sorgfältig angelegten Wege. Das Gusseisengerüst des achteckigen Pavillons rostet einsam vor sich hin, die an besonderen Verweilplätzen errichteten Steinbänke sind wohl nur mit einer Machete durch imposantes Dickicht zu erreichen.

„Die finden wir nicht so schnell“, sagt Ron Schmidt. Als Leiter der Unteren Denkmalschutzbehörde beim Bauordnungsamt der Stadt Köthen kennt er sich natürlich auch mit diesem Baudenkmal aus. An diesem Tag begleitet er mich auf meinem Rundgang über das Grundstück.

Die Wittig'sche Villa wurde in den Jahren 1884 und 1885 gebaut

Auch der Park steht unter Denkmalschutz, weil er zum selben Gelände gehört. Der historische Wassergraben des Bärteichs grenzt das Gelände von Ost nach West vom heutigen Friedenspark ab. „Der Bärteich ist der ehemalige mittelalterliche Stadtgraben“, erklärt der Denkmalschützer. An den beiden Enden des ehemaligen Parks, jeweils an der Ost- und der Westseite, befinden sich Hügel, auf der sich im Mittelalter die Türme der Stadtbefestigung befunden haben sollen, so Schmidt.

„Durch den Wildwuchs werden wir die auch nicht sehen können“, erläutert er weiter. Die Brückeneinfahrt über den historischen Wassergraben des Bärteichs wurde 1881 erbaut. Ich kann mir gut vorstellen, wie Louis Wittig oder seine Gäste hier mit der Pferdekutsche ankamen. Heute sind die Tore mit schweren Eisenketten gesichert.

Im Mittelpunkt des Anwesens steht die Villa, gebaut in den Jahren 1884 und 1885: Zur Parkseite ist die Fassade reich verziert, selbst nach fast 140 Jahren lassen sich noch Gestaltungsdetails wie Löwenköpfe und andere Stuckornamente erkennen. „Sie sehen ein repräsentatives Unternehmerschloss der Hochgründerzeit“, sagt Ron Schmidt mit Respekt in der Stimme.

Wittigs Villa in Köthen orientiert sich an der französischen Renaissance- und Barockarchitektur

„Aus architektonischer Sicht handelt es sich bei Wittigs Villa um eine Nachahmung altertümlicher Architektur. Das kann man unter anderem an den Säulen der Außenfassade erkennen.“ Außerdem orientierte man sich auch noch in dieser Zeit an den Vorbildern der französischen Renaissance- und Barockarchitektur, was an den opulenten dekorativen Details zu erkennen sei.

Von der Brücke bis zum rückseitigen Tor zur heutigen Museumsgasse durchzieht eine gepflasterte Straße das Gelände. Auf der einen Seite die Villa, auf der anderen Seite Kontor und Fabrik. Der Haupteingang zum Wohngebäude Louis Wittigs befindet sich hier - heute mit Brettern zugenagelt und mit Graffiti beschmiert.

Wüsste ich nicht, dass es sich um den Haupteingang handelt, hätte ich ihn wohl glatt übersehen. Am Eingang ragt ein Turm über das zweigeschossige Gebäude hinaus in die Höhe. Bei genauerem Hinschauen lassen sich viele kleine dekorative Details erkennen: Bögen überspannen die Fenster, die wiederum von Menschen- und Tierköpfen und vielen weiteren Verzierungen umgeben sind.

Köthen: Der Großunternehmer Wittig hatte ein großes Repräsentationsbedürfnis

Der Hof ist bis auf den Weg zum Bärteich und zwei Tore komplett von Gebäuden umgeben: Das Kontor auf der Ostseite, die Wirtschaftsgebäude auf der Nord- und Westseite, die Villa auf der Südseite. Man kann sich gut vorstellen, wie geschäftig es hier zu Wittigs Zeiten zuging.
Ich werde den Eindruck nicht los, auf einem Burghof zu stehen. Darauf angesprochen, nickt Ron Schmidt.

„Ein Großunternehmer wie Wittig hatte ein großes Repräsentationsbedürfnis, das sieht man hier.“ Es sei daher kein Zufall, dass das Ganze wie eine mittelalterliche Burg anmute. Wittigs Wohnhaus kommt auf dieser Seite komplett ohne Schmuck daher.

Als schlichte Ziegelrohbauten stellen die Hofgebäude und die Hofseite der Villa einen bemerkenswerten stilistischen Kontrast zur anderen Seite der Villa dar. Wo einst einer der bekanntesten Köthener wohnte, pfeift heute Wind durch leere Zimmerfluchten.

Louis Wittig (1834-1907) wurde 1834 in der Schalaunischen Straße in Köthen geboren. Nach der Schule wurde er Kaufmann, produzierte und vertrieb den durch den Inhaber einer homöopathischen Klinik in Köthen von Artur Lutze entwickelten „Gesundheits-Kaffee“.

Kaffee-Ersatz macht Köthener Wittig reich

Da Bohnenkaffee damals oft nicht erschwinglich und zeitweise sogar verboten war und von Homöopathen wie Lutze sowieso abgelehnt wurde, entwickelte sich der aus Roggen, Gerste und Zuckerrüben bestehende Kaffee-Ersatz zu einer beliebten Alternative und machte Wittig reich.

Was es ihm möglich machte, neben der Herstellung des Gesundheitskaffees als Mäzen bleibende Spuren in Köthens Entwicklung und im Stadtbild zu hinterlassen: Der Männerturnverein verdankte ihm seine Entstehung ebenso wie die städtische Feuerwehr. Seit 1880 war er Mitglied im Anhaltischen Landtag, im Oberverwaltungsgericht und in der Landessynode.

Wittig unterstützte, auch finanziell, die Errichtungen des an 1870/71 gemahnenden Kriegerdenkmals auf dem Marktplatz sowie des Fürst-Ludwig-Denkmals am Schlossplatz und war Stifter des Hahnemann-Lutze-Denkmals. Zum Aufbau der Türme der Jakobskirche schenkte er dieser eine Glocke. Aktiv wirkte er auch als Mitglied im Schulvorstand und im Kuratorium des städtischen Friedrichs-Polytechnikums.

1895 übertrug er die Firma an seinen Sohn Max, 1904 legte er aus gesundheitlichen Gründen viele seiner Ämter nieder. Louis Wittig starb am 4. Juni 1907 im Alter von 73 Jahren und wurde in der Familiengruft auf dem alten lutherischen Friedhof beigesetzt. Die Firma führten die Familienangehörigen bis zum Erlöschen im Jahre 1925 weiter.

Lost Place in Köthen: „Die Vernachlässigung des Denkmalschutzes ist bedauernswert“

Ganz anders wiederum erscheint jedoch das ehemalige Kontorgebäude. Da dieses heute zum Köthener Sitz von Mercateo gehört, ist der Gesamteindruck ein ganz anderer: Der eingeschossige neobarocke Bau ist im Gegensatz zum restlichen Gelände heute noch als hochpräsentativ zu bezeichnen, da er komplett saniert ist.

Diesen Zustand wünscht sich Köthen oberster Denkmalschützer für das ganze Gelände. „Die Vernachlässigung des Denkmalschutzes ist bedauernswert“, sagt Ron Schmidt kopfschüttelnd. Die Wittig'sche Villa sei einfach einmalig in Köthen, weil es gleichzeitig Wohnort, Verwaltungsort, Produktionsort und Repräsentationsort war. Dazu kommt die Lage im Stadtzentrum - am Ende dieses Besuches kann ich Louis Wittigs Gründe, sein Anwesen auf diese Weise bebaut zu haben, gut verstehen.