Rettungsdienst in Köthen Rettungsdienst in Köthen: 112 - Wir kommen

Köthen - Der Dienst beginnt für Notarzt Peter Trommler an diesem Morgen um 7 Uhr. Der Chefarzt für Anästhesie und Intensivmedizin an der Köthener Helios Klinik ist einer von neun Krankenhausärzten, die ihren Arbeitsplatz zwei- bis viermal im Monat mit einem Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) tauschen. Erst im Januar 2015 kam in der Köthener Hauptwache nach Umstrukturierungen im Rettungsdienst ein zweites NEF hinzu. Seither müssen weniger Notarzteinsätze mit dem Rettungshubschrauber geflogen werden, beobachtet Hauptwachenleiter Heinz Damasch vom Deutschen Roten Kreuz in Köthen.
An diesem Einsatztag mitten in der Woche wird Dr. Trommler nach zwölfstündigem Dienst resümieren: Es war ein relativ ruhiger Tag. Siebenmal in 24 Stunden wurden die beiden diensthabenden Notärzte von der Bitterfelder Rettungsleitstelle angefordert, die RTW waren insgesamt 19 Mal im Einsatz, unter anderem bei einem Arbeitsunfall in Weißandt-Gölzau. Ein Mann hatte sich eine leichte Schnittverletzung mit Prellung zugezogen. „Im Schnitt fahren wir zwischen 15 und 30 Einsätze am Tag“, so Trommler.
Schwer bepackt
Als der Pieper des Köthener Notarztes am Mittwoch, 14.32 Uhr, zum zweiten Mal Alarm schlägt, dauert es nur ganze drei Minuten zum Einsatzort. Das Personal einer Arztpraxis am Köthener Holzmarkt hat den Notruf abgesetzt. Eine über siebzigjährige Patientin bekam plötzlich Schweißausbrüche, wirkte leicht verwirrt. Verdacht auf Zuckerschock. Als Notarzt Trommler in Begleitung von Rettungsassistent Marco Burchert am Einsatzort eintrifft, ist die zweiköpfige Besatzung des Rettungs-transportwagens (RTW) schon vor Ort, hat den Zuckerwert gemessen und erste Maßnahmen eingeleitet. Auch die Mitarbeiter der Praxis haben Erste Hilfe geleistet und der Patientin ein Glas Zuckerwasser gereicht. Der Notarzt ordnet an, die Patientin ins Rettungsfahrzeug zu bringen. Das geschieht mit Hilfe eines Tragetuches.
Kein leichter Einsatz für die Helfer, die sich durch das enge Treppenhaus über mehrere Stufen abwärts zwängen müssen. Überhaupt verlangt dieser heiße Sommertag ihnen körperlich einiges ab. Der Notfallrucksack mit Medikamenten, Verbandsmaterial, Blutdruckgerät und anderen Utensilien wiegt allein um die 20 Kilo. Auch das transportable Blutdruckgerät, das EKG mit dem externen Herzschrittmacher sind nicht gerade Leichtgewichte. Dazu stecken die Rettungskräfte selbst bei Temperaturen jenseits der 30 Grad in langen Arbeitshosen, tragen zur eigenen Sicherheit überm T-Shirt noch eine Rettungsweste und schweres Schuhwerk mit Stahlkappen.
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Am Holzmarkt kann die kurzzeitig unterzuckerte Patientin nach einer Infusion und einer Glukosespritze sowie der Aufforderung, umgehend etwas Handfestes zu essen, bald wieder aus der Obhut von Dr. Trommler und dem Rettungsteam entlassen werden. „Ihr Diabetes ist bekannt, sie befindet sich in Begleitung, der Sohn wird zu Hause die weitere Betreuung übernehmen, sie weiß, dass sie uns im Notfall wieder kontaktieren kann“, erklärt der Mediziner, warum eine Einweisung ins Krankenhaus nicht erforderlich ist. Für Trommler ein Routinefall und dennoch weiß er, dass sich das Blatt schnell wenden, es einem Patienten plötzlich schlechter gehen kann. Es gehört also neben der Erfahrung auch Courage dazu, eine Entscheidung zu treffen, für die man im Ernstfall auch vor Gericht gerade stehen muss. An Ende geht es immer um das medizinisch Notwendige.
Nicht immer haben das auch die Patienten im Blick, wie Ärzte und Rettungskräfte aus langjähriger Erfahrung wissen. Bei zehn bis fünfzehn Prozent der Einsätze müsste der Notarzt eigentlich nicht gerufen werden, so eine eher wohlwollende Schätzung. Wie bei einem Fall vom Vortag, an dem insgesamt 37 Rettungseinsätze gefahren wurden. „Da sollten wir einer Frau (übrigens nicht zum ersten Mal) helfen, ihren Mann aus der Badewanne zu heben“, erzählt eine Rettungsassistentin. Missbrauch des Rettungsdienstes? Wer kann schon nachvollziehen, ob der Mann zuvor nicht wirklich unter Schwindel und Taumel litt, wie beim Anruf in der Rettungsleitstelle angegeben?
Wenn der Pieper, ausgelöst von den Mitarbeitern der Rettungsleitstelle in Bitterfeld, Alarm schlägt, sehen Notarzt und Rettungskräfte nur wenige Informationen auf ihrem Display. „Mittels Code wird die Verdachtsdiagnose übermittelt“, erläutert Trommler. Dazu der Name des Patienten und der Ereignisort.
Zwar sind die Mitarbeiter der Leitstelle darauf geschult, den Benutzer des Notrufes 112 ausreichend lange am Hörer zu halten, ihm alle wichtigen Informationen zu entlocken, die für die Verdachtsdiagnose gebraucht werden, doch die Praxis sieht oft anders aus. Der Anrufer steht meist unter Stress, ist aufgeregt. In der Leitstelle geht oft schon der nächste Hilferuf ein. „Man kann nicht mit den Ohren sehen“, erklärt Trommler mögliche Fehldiagnosen.
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In den über zwei Jahrzehnten, die er auf dem NEF unterwegs ist - früher im Wartburg, heute im Volkswagen - hat er schon viel erlebt. 90 Prozent der Einsätze seien internistischer oder psychologischer Art, sagt er. Zu schweren Verkehrsunfällen werden die Notärzte relativ selten gerufen. Das hänge wohl damit zusammen, dass die Autos heute viel sicherer sind, sagt Trommler. Kein Vergleich also mit den Nachwendejahren 1991 bis 1995. „Da sind wir nach der Disco im Zelt fast jedes Wochenende zwischen 3 und 7 Uhr zu schweren Unfällen, oft auch mit Todesfolge, ausgerückt.“ Die neuen Freiheiten, Drogen und Alkohol, junge Leute mit wenig Fahrpraxis hinterm Steuer von PS-starken Autos, beschreibt er die damalige Situation. Die Kurven in der Maxdorfer Straße, in Merzien oder Porst waren berüchtigte Unfallschwerpunkte.
Seit 25 Jahren im Einsatz
Wer so lange im NEF fährt, hat den Vergleich. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung an den Rettungsdienst sei heute viel ausgeprägter, beobachtet der Notarzt. Viele sehen darin eine Dienstleistung, die jeder in jedem Fall in Anspruch nehmen kann. Nach intensiverer Nachfrage bei Notfallpatienten stelle sich nicht selten heraus, dass ihre Krankheit schon lange bekannt ist, bereits mehrere Ärzte konsultiert wurden. Es gibt aber auch Patienten, die wollen sich nicht längere Zeit in eine Praxis oder eine Notfallambulanz setzen und wählen lieber die 112. Dabei werde vergessen, dass der Notarzt weder Rezept noch Krankenschein ausstellt. Auffällig sei auch das Gefälle zwischen Stadt und Land. Aus ländlichen Regionen gehen viel weniger Notrufe ein. Trommler führt das u.a. auf ein engeres Hausarzt-Patientenverhältnis zurück. Was die Rettungskräfte immer wieder ärgert, ist, dass sie durch Straßenbaustellen überrascht und behindert werden. „Wir bekommen keine Informationen, wo gebaut wird, und sind auf die Zeitung angewiesen“, bemängelt Trommler.
Wie zur Bestätigung gibt der Pieper zehn Minuten vor Schichtschluss um 19 Uhr noch einmal Signal. Der Notruf kommt aus einem Ortsteil des Südlichen Anhalt. Nach einem Grillfest im Garten ist eine 53-Jährige plötzlich in Ohnmacht gefallen. „Existiert die Baustelle im Ort noch?“, schauen sich Notarzt und Fahrer beim Losfahren fragend an. Auch die Leitstelle in Bitterfeld muss passen.
Beim Eintreffen des RTW, der diesmal aus der Wache in Radegast mit einer Besatzung des DRK-Kreisverbandes Bitterfeld anrückt, und wenig später des Köthener NEF, geht es der Patientin schon besser. Ein Tropf mit Flüssigkeit wird gelegt, ein EKG geschrieben und nach Erforschung der Krankheitsgeschichte kann auch hier Entwarnung gegeben werden: Es ist kein epileptischer Anfall.
Trommler und der Fahrer des RTW können für heute die Rettungsweste an den Nagel hängen. (mz)
