Gratulationen und etwas Wehmut
OSTERNIENBURG/MZ. - Ralf Ganzer hat ja mit seinem Geburtstag das Rentenalter erreicht, und er wird auch konsequent sein: aufhören, wenn es Zeit ist. Der 31. Dezember ist Stichtag. Bis dahin wird er noch praktizieren, dann nicht mehr.
"Der Doktor wird uns fehlen", sagt beispielsweise Gerd-Peter Bartosch, seines Zeichens Bürgermeister der Gemeinde, und er macht dabei ein ernstes Gesicht, das sich aber sofort wieder aufhellt, als er Ralf Ganzer zum Geburtstag gratuliert und ihm die Blumen samt Wandteller mit Osternienburger Wappen übergibt.
Lange kennen sich die beiden. Sehr lange. Kein Wunder: Dr. Ralf Ganzer hat hier am 1. April 1978 seine Praxis eröffnet. Dreißigeinhalb Jahre hat er hier tagein, tagaus seine Patientinnen und Patienten behandelt. Und was Bartosch besonders herausstellt: Die vielen, vielen Hausbesuche, die Ralf Ganzer während dieser Zeit gefahren ist. Nicht zuletzt deshalb redet der Bürgermeister auch von einem lachenden und einem weinenden Auge an einem solchen Tag: Zum einen gönnen er und die anderen Leute dem Doktor von Herzen den verdienten Ruhestand. Zum anderen ist es halt, wie Bartosch schon sagte: Er wird fehlen. Schon allein, weil zahlreiche Patienten demnächst längere Wege zum Allgemeinmediziner in Kauf nehmen müssen.
Zwar gibt es noch eine Ärztin in Osternienburg, die ebenfalls einen großen "Kundenkreis" hat (der Bürgermeister: "Das ist ein Glücksfall für uns"). Aber ihr alleine dürfte es schwer fallen, die Lücke zu füllen, die Ganzer ab Ende Dezember hinterlässt. Zum Einzugsgebiet gehören immerhin Reppichau, Elsnigk, Würflau, Micheln, Trebbichau / Aken, Klietzen, Pißdorf, Sibbesdorf . . . Durchschnittlich zählte Dr. Gantzer pro Quartal um die 1 300 Patienten, in Spitzenzeiten auch schon mal 1 700. So hat er seinen "Kunden" jetzt Empfehlungen an diverse andere Ärztinnen und Ärzte gegeben, die noch in der Lage gewesen sind, jemanden aufzunehmen. Soweit, so gut, aber diese Praxen befinden sich zum guten Teil in Aken und Köthen, was einfach weiter weg ist. Und dann ist ja da noch die Geschichte, dass Ganzer auch jeden Samstag ins Zehringer Altersheim gefahren ist und dort nach dem gesundheitlichen Rechten der Bewohner geschaut hatte. "Das habe ich in meiner Freizeit gemacht", sagt Ralf Ganzer, der auch als Betriebsmediziner aktiv war.
"Er ist praktisch immer da gewesen für uns, besonders für die älteren Leute", weiß Bürgermeister Bartosch und führt noch einmal die rege Hausbesuchstätigkeit des Arztes an. Der wiederum meint: "Das haben wir früher mit dem Berufsbild eines Haus- oder Landarztes so vermittelt bekommen. Das gehört dazu. Wenn ich allein an Trebbichau denke, da fährt keine Bahn mehr, und zur weit entfernten Bushaltestelle können die alten Leute nicht laufen." Da habe er sie dann in regelmäßigen Abständen besucht. Und sich dafür eine Regressforderung eingehandelt - "weil der Verdacht nahe liege, dass ich die Hausbesuche unwirtschaftlich erbracht habe", sagt Ganzer mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme.
Ein Nachfolger für Ralf Ganzer ist nicht in Sicht. Obwohl nicht nur er sich redlich mühte, einen zu finden. Bartosch und Ganzer wurden im Köthener Krankenhaus vorstellig, der Doktor ging mündlichen Informationen nach, recherchierte im Internet, schrieb sogar an die Ärztekammer Österreichs - weil er mal in der Zeitung gelesen hatte, dass dortige Absolventen auch nach Deutschland gehen würden. Auf dieses Schreiben bekam er keine Antwort. Seine Patienten hörten sich im Bekanntenkreis um, seine Bank sich in ihrem Kundenkreis . . . Genutzt hat es bis heute nichts. Wobei Ralf Ganzer die Hoffnung noch nicht völlig verloren hat: Sein großes Osternienburger Anwesen wird er mit der Rente nicht mehr halten können, will es also veräußern - idealerweise an einen Arzt. Aber ob das klappt?
Das Grundübel an dieser Situation sieht Ganzer darin, dass es verabsäumt worden sei, den beruflichen Nachwuchs entsprechend zu interessieren. "In einer aktuellen Umfrage kann man lesen, dass 70 Prozent der Absolventen Deutschland verlassen wollen", sagt er. Zurück führt er das längst nicht nur auf Honorare. Er zieht auch Vergleiche zur Zeit, als er noch junger Arzt war. "Man muss werben", weiß er. Damals sei man zwar gelenkt worden, wobei Ganzer betont, dass dabei auch persönliche Interessen berücksichtigt worden seien. Aber es habe eben auch einen Landzuschlag gegeben, die bevorzugte Schaffung von Wohnraum usw. Und längst nicht die ausufernde Bürokratie, wie sie heute im Gesundheits- und Pflegewesen allerorten Usus ist. Letzterer bald zu entkommen, sieht Ganzer als den vielleicht positivsten Aspekt seines in Riesenschritten nahenden Ruhestandes.
Doch es gibt noch weitere: "Ich werde mir vieles ansehen", freut er sich auf interessante Reisen. Und er habe noch viel am Grundstück zu tun, bevor er es verkaufen kann. "30 Jahre - Sie kennen bestimmt solche Hausböden", lacht er. Ein Hausverkauf aber hieße auch Abschied von Osternienburg. "Aber ich kann überall leben", blickt Ralf Ganzer zuversichtlich voraus. Und hofft dabei, dass seine eine Mitarbeiterin, die bisher noch keinen neuen Job hat, bald einen finden werde. Also auch beim Blick in die Zukunft sind die beiden da: das lachende und das weinende Auge.