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Drei Köthener in Hamburg Drei Köthener in Hamburg: Ein Wiedersehen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung

Von Matthias Bartl 25.11.2019, 14:11
Die Platten aus Hamburg gibt es immer noch: René Becker, Heiko Spott und Helge Bayer (v.l.) vor dem Köthener Bahnhof, von wo aus es damals im November 1989 für Becker und Spott in den Westen ging. Bayer war auf der zweiten Reise dabei.
Die Platten aus Hamburg gibt es immer noch: René Becker, Heiko Spott und Helge Bayer (v.l.) vor dem Köthener Bahnhof, von wo aus es damals im November 1989 für Becker und Spott in den Westen ging. Bayer war auf der zweiten Reise dabei. Ute Nicklisch

Köthen - Natürlich kann sich René Becker noch erinnern. Nicht an alles - 30 Jahre sind eben doch eine lange Zeit -, aber an vieles. An die Fahrt durch die Stadt, „auch an die Reeperbahn“, sagt der Köthener und grinst. Und natürlich erinnert er sich an Thomas Pampel, seinen Gastgeber in der Hansestadt.

Pampel und seine damalige Partnerin wurden im November 1989 für Becker und seine beiden Freunde Heiko Spott und Thomas Jakubek zum Inbegriff der Gastfreundschaft. „Dass er spontan drei Wildfremde bei sich zu Hause aufgenommen und sich um sie gekümmert hat“, sagt Becker, „davor ziehe ich noch heute den Hut und werde ihn immer ziehen.“

Pampel hatte sich in diesem Jahr vor gut zwei Monaten auf die Suche nach seinen drei Besuchern begeben, hatte die MZ und andere Medien eingeschaltet: „Ich bin neugierig, wie die drei Jungs heute aussehen, was sie inzwischen gemacht haben“, so Pampel damals gegen über der Mitteldeutschen Zeitung. Inzwischen weiß man, dass die Suche erfolgreich war - und dass der Kontakt zwischen der Waterkant und dem Anhaltland wiederhergestellt ist.

„Wir wollten schnell mal nach Hannover, die 100 Mark holen, eine Bockwurst essen und wieder zurückfahren“

Ausgangspunkt für diese deutsch-deutsche Wendegeschichte ist die legendäre Pressekonferenz, auf der Günther Schabowski mit einem Satz die DDR beerdigt hatte, deren Existenz ohne Mauer nur noch nach Monaten gezählt wird. Becker hat „das Ganze erst am nächsten Tag realisiert“. Er war mit seinen Spannemännern in einem der drei damals existierenden Studentenklubs, wo nur das Bier lief, aber kein Fernseher.

Am Tag darauf verabredete man sich, so schnell wie möglich einen Abstecher in den Westen zu machen und sich das Begrüßungsgeld zu sichern, „auch in der Befürchtung, die Grenzöffnung würde wieder rückgängig gemacht“, sagt René Becker. „Wir wollten schnell mal nach Hannover, die 100 Mark holen, eine Bockwurst essen und wieder zurückfahren“, sagt Becker mit Augenzwinkern.

So stand man am Abend auf dem Bahnhof in Köthen, als ein proppevoller Zug einlief, von dem das Trio annahm, er würde nach Hannover fahren - das geplante Ziel der Reise. Jakubek habe eine Zugtür geöffnet, „da sind gleich drei Leute rausgepurzelt“, die Köthener kletterten in den Waggon, in dem „1.000 Leute wie Ölsardinen“ standen - und waren verblüfft, als der Zug sich nicht nach Hannover, sondern nach Hamburg in Bewegung setzte.

Hamburger Thomas Pampel machte den Fremdenführer, die drei Köthener gingen mit

Wo man mitbekam, dass ein Hamburger Radiosender die Hanseaten dazu aufgerufen hatte, sich um die „gestrandeten Ossis“ zu kümmern. Einer dieser Freiwilligen war Thomas Pampel - und Becker, Spott und Jakubek, der inzwischen leider verstorben ist, machten sich „mit S-Bahn und Stadtplan“ auf dem Weg zu ihrem Gastgeber.

Thomas Pampel hatte beim Frühstück den Aufruf im Radio gehört und musste nicht lange überlegen. Eigentlich habe er ein Pärchen aufnehmen wollen, aber Pampel - umtriebiger Unternehmer und in vielen Sätteln gerecht - war und ist einer, der auch mit überraschenden Situationen umgehen kann. Er holte erst mal Frühstück für das Trio, das bald bei ihm an der Haustür klingelte.

Dann folgte ein Tag, an den sich alle noch gut erinnern. Pampel machte den Fremdenführer, die drei Köthener gingen mit großen Augen durch die Millionenstadt und setzten ihr Begrüßungsgeld um. Spott und Jakubek seien „Musiknarren“ gewesen und wollten sehen, „was es da gibt“. So landete man in irgendeinem Riesenladen mit Kassetten, Platten und Technik, „da war nicht nur Überfluss, da war Superüberfluss“, sagt Becker.

Mit dem Trabi in Hamburg – einen Kasten Bier als Dankeschön im Gepäck

Immer dabei bei dieser Tour durch die Riesenstadt: Thomas Pampel. Pampel, sagt Becker mit drei Jahrzehnten Abstand und drei Jahrzehnten mehr Erfahrung, „war ein absolut geiler Typ, zwischenmenschlich hätte uns gar nichts Besseres passieren können“, als beim ersten Ausflug in den Westen auf ihn zu treffen.

Daher fuhr man zwei Wochen später noch mal nach Hamburg, diesmal mit dem Trabi, und besuchte Pampel - einen Kasten Bier als Dankeschön im Gepäck. „das war das mindeste, um uns zu bedanken.“ Thomas Jakubek konnte bei der zweiten Tour nicht dabei sein, weil er gerade Vater wurde, an seiner Stelle fuhr Helge Bayer mit in die Elbestadt.

Wo man ein weiteres Mal mit Thomas Pampel zusammentraf und ein weiteres Mal schöne und einprägsame Stunden verlebte, auch mal den Hafen besichtigte. Und in einer Disco namens „Kleine Freiheit“ (die heute noch existiert) eine ebenso bemerkenswerte wie unerwartete Begegnung hatte, wie sich Becker erinnert.

„Als ich den DJ reden hörte, klang mir das doch sehr vertraut“

„Als ich den DJ reden hörte, klang mir das doch sehr vertraut“, sagt er. Er habe den Mann daraufhin angesprochen - und siehe da - „der war ein halbes Jahr zuvor aus Radegast in den Westen abgehauen“. In einer anderen Szenekneipe, der „Zwiebel“, gab es Freibier für alle drei, der Typ am Piano entpuppte sich als brillanter Jazz- und Bluesmusiker, der ein Konzert gab und den Besuchern Schallplatten mit seiner Musik schenkte.

„Die haben wir heute noch.“ Man habe die halbe Nacht in der „Zwiebel“ gefeiert und sich am Morgen auf dem Fischmarkt zum Abschiedsbier zusammengefunden. Schließlich musste man am Montag wieder in Köthen arbeiten. „Geschlafen haben wir gar nicht“, denkt Becker zurück, er könne sich jedenfalls nicht erinnern - „es war schon eine wilde Zeit.“

Über die (und über die Jahre danach) René Becker, heute als „Poolbecker“ ein erfolgreicher Firmenchef, eine separate Geschichte erzählen könnte - eine lange Geschichte, mit vielen Wendungen und Widrigkeiten, aber eine, die letzten Endes zeigt, dass Becker ein „Stehaufmännchen“ war und ist, „obwohl mit der Wende alle meine Pläne den Bach runtergegangen waren“.

2002 beim Hochwasser in Dessau mitgeholfen

Zu den schönen Erinnerungen (es gab auch andere) zählt mit Sicherheit eine 7.000 Kilometer lange Autotour zusammen mit Heiko Spott - bis runter nach Portugal und in die Sierra Nevada mit einem zehn Jahre alten klapprigen Golf. Es gehören dazu x Jobs und x Versuche, als Selbstständiger mehr als nur ein Bein auf die Erde zu bringen. Es gehört dazu ein Fernstudium, das Becker nicht zuletzt deswegen im fortgeschrittenen Alter angefangen und durchgezogen hat, weil ihm zu DDR-Zeiten das Studium verweigert worden war.

Und es gehört dazu die Episode, dass er 2002 beim Hochwasser in Dessau mitgeholfen hat, Sandsäcke gegen die Elbeflut aufzustapeln. Und nicht wusste, dass diese Sandsäcke von einem alten Bekannten geliefert worden waren: Thomas Pampel ist Chef der Firma Stoneland, die auf Hilferufe in Notzeiten spezialisiert ist. Das aber ist dann schon eine andere Nach-Wende-Geschichte. (mz)

Gastgeber für Köthener Jungs: Thomas Pampel.
Gastgeber für Köthener Jungs: Thomas Pampel.
Stoneland/von Rantzau