Vergangenheitsbewältigung in Jessen Vergangenheitsbewältigung in Jessen: Hartnäckiger Stasi-Schatten

Jessen - Ein Teil der Ratsuchenden kommt mit dicken Aktenordnern. Andere bringen nur wenige Papiere mit, einige auch nur ihren Personalausweis. Letztlich braucht es nur dieses einzige Dokument, um Auskunft über eventuell vorhandene Stasi-Akten zu beantragen – oder einen Nachfolgeantrag zu stellen.
Insgesamt 16 Bürger aus Jessen und Umgebung haben diese Möglichkeiten vor wenigen Tagen im Seniorentreff in Anspruch genommen. Ansprechpartner waren Wolfgang Laßleben, Vertreter der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, und Diplom-Sozialarbeiter Klaus Blaser von der Caritas.
27 Jahre nach Ende der DDR-Diktatur sind auch in der Jessener Region wie überall im Land noch viele Biografien vom Schatten der Stasi verdunkelt. Das spürt Wolfgang Laßleben an jedem Beratungstag. Der Bedarf zur Akteneinsicht sei noch immer sehr groß. So hätten in Sachsen-Anhalt 2015 etwa 800 Personen pro Monat einen Antrag gestellt. Das entspreche etwa dem Niveau von 2005/06. Zwischenzeitlich, also 2007, 2008 und 2009, lagen die Zahlen noch höher. Zu dieser Zeit wurden neue Regelungen zur Opferentschädigung (sogenannte „Opferrente“ für Haftopfer, § 17a Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz) in Kraft gesetzt.
Es wird komplizierter
In letzter Zeit seien die Inhalte der Nachforschungen „komplizierter und häufig komplexer geworden“, führt Laßleben aus. Das betrifft vor allem die Anliegen von Bürgern, die aus politischen Gründen während der DDR-Zeit exmatrikuliert wurden, nicht studieren oder ihren angestammten Beruf nicht mehr ausüben durften. Als Entschädigung sichert der bundesdeutsche Gesetzgeber finanzielle Ausgleichsleistungen zu, wenn der Nachweis für solche Maßregelungen erbracht ist. Oft würden sich auch im Zuge der Rentenkontenklärung Lücken offenbaren, denen man auf die Spur kommen will. Laßleben: „Wir sind behilflich, die Nachforschungsaufträge auf den Weg zu bringen, aber man braucht Geduld.“ Hinderlich sei die Tatsache, dass die Stasi 1989 Tausende Unterlagen vernichtet habe. „Einiges, was in zerrissener Form gerettet wurde, kann wiederhergestellt werden. Das passiert gerade mit Akten, die aus Eisleben stammen“ (MZ berichtete).
In Jessen bestehe die besondere Situation, dass die Region einst zum Bezirk Cottbus, heute Land Brandenburg, gehörte. Deshalb müsse im Landeshauptarchiv Potsdam nachgeforscht werden. Oder in der Außenstelle der BStU in Frankfurt/Oder, wo 80 Lkw-Ladungen der Stasi-Bezirksverwaltungen Cottbus und Frankfurt/Oder gelandet sind.
Neben Entschädigungsanliegen gibt es auch andere Gründe, warum das Interesse auf Akteneinsicht erst jetzt richtig aufflammt: „Bei vielen Antragstellern stand jahrzehntelang der Job im Vordergrund. Andere sagen, dass sie einfach Abstand gewinnen wollten, weil sie glaubten, man solle die alten Zeiten ruhen lassen“, erzählt Wolfgang Laßleben. Aber die Seele hat ihre eigenen Gesetze: „Da rumort immer etwas und kommt nach oben, wenn sich bestimmte Ereignisse jähren, Familienfeste gefeiert werden oder man gewissen Menschen im Alltag begegnet“, so beschreibt eine Dame ihre Befindlichkeiten, als sie in der Jessener Sprechstunde den „Antrag auf Einsicht in die Stasi-Unterlagen“ ausfüllt. Mittendrin, als sie die bisherigen Wohnadressen notiert, stockt ihre Hand: „Was mache ich, wenn Decknamen auftauchen? Ich bin unsicher, ob ich wirklich wissen will, wer dahinter steckt!“ Wolfgang Laßleben: „Das Thema beschäftigt fast alle Antragsteller. Ich bekräftige grundsätzlich jeden Bürger darin, die Decknamen entschlüsseln zu lassen. Zum einen, um etwaige falsche Verdächtigungen auszuschließen. Zum anderen, weil Inoffizielle Mitarbeiter sehr gern real existierende Namen von Personen aus dem Umfeld nutzten, die niemals für die Stasi gearbeitet haben. So konnten die Spitzel noch mehr Unfrieden stiften.“
Klarheit in der Familie
Nicht nur unmittelbar Betroffene, auch die Kinder- und Enkelgeneration wird tätig – entweder, weil die Großeltern dazu nicht mehr in der Lage sind, oder weil die Jüngeren Klarheit in der Familie schaffen wollen. So berichtet Wolfgang Laßleben von einem Fall aus Jessen, wo der Großvater nach Kriegsende im Lager Mühlberg/Elbe, einem von zehn Speziallagern des sowjetischen Geheimdienstes, inhaftiert war. „Im Prinzip geht es immer um das gestohlene und zersetzte Leben durch politisch motiviertes Unrecht in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR“, fasst er zusammen. Was passiert nach der Antragstellung? Laßleben: „Nach etwa drei bis sechs Monaten erhält man eine Mitteilung, ob Unterlagen vorliegen.“ Wenn es nur eine Karteikarte ist, werde diese als Kopie mitgeschickt. Gibt es Hinweise auf eine Akte, könne es etwas länger dauern, „ohne eiligen Grund auch bis zu drei Jahren. Bis zu 85 Seiten würden nach dem Auffinden als Kopie an den Antragsteller per Briefpost verschickt. Wenn der Umfang darüber liegt, werde der Betreffende in eine von ihm gewünschte Außenstelle der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) eingeladen und kann die Unterlagen dort einsehen.
Die nächstgelegenen Dienststellen von Jessen aus befinden sich in Halle, Berlin, Magdeburg und Leipzig. Laßleben resümiert: „Es ist schon viel getan worden, die soziale, gesundheitliche und berufliche Situation SED-Verfolgter zu verbessern, aber für viele Betroffene ist vieles offen geblieben. Mitunter braucht es eine längere Begleitung beim Antrag auf Rehabilitierung und den Folgeanträgen.“ Auch wenn sich vermutlich nicht alles aufarbeiten lässt – unsere Möglichkeiten sind noch lange nicht erschöpft.“ (mz)