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Spurensuche zum Todesmarsch Spurensuche zum Todesmarsch: Das Dunkel lichtet sich

Von Detlef Mayer 25.02.2019, 15:45
Dr. med. Joachim C. Weidauer und seine Frau Ursula, geborene Kaatz, die am 6. Mai 1950 in Seyda heirateten
Dr. med. Joachim C. Weidauer und seine Frau Ursula, geborene Kaatz, die am 6. Mai 1950 in Seyda heirateten Nachlass Weidauer

Seyda - Einen Schritt zurück und zwei voran - so recherchiert sich der Genthaer Hobby-Heimatforscher Dietmar Steinecker durch die lokale Historie. Immer wieder fördert der jetzt 74-Jährige neue Erkenntnisse zutage - in diesem Fall zum Verlauf des Todesmarsches, den die SS Anfang April 1945 in Langenstein-Zwieberge, Außenlager vom KZ Buchenwald, den heranrückenden amerikanischen Truppen ausweichend auf den Weg gebracht hatte.

In seiner letzten Phase wurden verbliebene Kolonnen von KZ-Häftlingen auch durch die hiesige Gegend getrieben. Unter ihnen der spätere Seydaer Arzt Joachim Weidauer, dem zwischen Meltendorf und Zemnick die Flucht gelang.

Neue Variante

Diese Flucht betreffend war Dietmar Steinecker bis eben noch davon ausgegangen, dass sich Dr. Weidauer an der Fließ-Brücke zwischen Lüttchenseyda und Meltendorf - nach Absprache mit einem wohlmeinenden Wachmann - von dem Zug absetzen konnte .

Beim verbliebenen Rest der noch lebenden Todesmärschler aus dem KZ Langenstein-Zwieberge, die um den 20. April 1945 von der Wachmannschaft aus Gentha kommend über Lüttchenseyda in Richtung Meltendorf und Zemnick getrieben wurden, befand sich auch Dr. Joachim Weidauer. In Dresden geboren, hatte er in den 1930er Jahren in Wien Medizin studiert. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er Halbjude (väterlicherseits) war. Von einem Nazi deshalb beschimpft, schlug Weidauer diesen zusammen. Wofür er ins KZ kam (1940 bis 1945) - nach Sachsenhausen bei Oranienburg, nach Buchenwald und Langenstein-Zwieberge.

Bei einem Wald zwischen Meltendorf und Zemnick ließ sich Weidauer am direkten Verbindungsweg beider Ortschaften (existiert heute nicht mehr) in Absprache mit einem Wachmann in den daneben verlaufenden Graben fallen. Der Wächter schoss zweimal über ihn hinweg und der Tross zog weiter. Weidauer schleppte sich in besagtes Wäldchen, von dem aus es auch nicht weit nach Schadewalde ist. Dort fanden ihn die Kinder (Siegfried und Günther) von Meta Dümichen aus Schadewalde. In der Nacht wurde der völlig entkräftete Mann mit einem Handwagen geholt, zuerst in die nahe Mühle von Schinkels, dann zu Meta Dümichen. Sie versteckte ihn mehrere Wochen im Backbund-Schuppen. Weidauer wog da nur noch 36 Kilo. Nach Kriegsende meldete er sich beim Seydaer Bürgermeister, der später sein Schwiegervater wurde. Er ehelichte Ursula Kaatz, das Paar bekam zwei Kinder. Weidauer wurde Landarzt in Seyda.

Als die Zwangskollektivierung in der DDR-Landwirtschaft griff, baten Bauern den Arzt, auf einer ihrer Versammlungen zu sprechen. Weidauer prangerte den SED-Staat und das Eingesperrtsein in der DDR an. Was ihn in den Fokus der Staatssicherheit rückte. Am 5. Oktober 1960 wurden er und seine Frau Ursula auf dem Weg nach Berlin unweit von Mellnitz verhaftet. Gut sechs Jahre (1960 bis 1967) saß der Arzt im berüchtigten Bautzener Knast ein. Seine Frau kam als „Mitwisserin“ für zwei Jahre ins Gefängnis. Sie kehrte 1966 als körperliches Wrack im Rollstuhl zurück und starb kurz darauf. Weidauer, Mitte 1967 entlassen, ging nach Rheinsberg (zwischen drei Orten ließ man ihn wählen), wo er noch rund 25 Jahre als praktizierender Arzt tätig war. Er starb am 13. Dezember 1991 mit 79 Jahren.

So hatten Zeitzeugen es ihm gegenüber geschildert. Doch ein von Joachim Weidauer selbst verfasstes Dokument, das er im März 1949 an den Landesverband Sachsen-Anhalt der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) richtete und das dem Genthaer erst kürzlich zugänglich wurde, belehrte ihn nun eines Besseren.

In dem Schreiben berichtet der Seydaer Arzt unter der Überschrift „Todesmarsch ab Langenstein-Zwieberge nach Zahna (dort aufgelöst)“: „Am 9. April 1945 marschierten genau 3 000 Mann (in sechs Kolonnen zu je 500 Leuten - die Redaktion) unter SS-Bewachung ab. Der Zug bewegte sich zunächst nach Quedlinburg. Die Stadt wurde durchmarschiert.“ Größere Orte seien im Weiteren gemieden worden, auch bemerkten die Häftlinge anhand der Ortsschilder, dass man sie im Zickzack führte oder gar im Kreis.

„Von Quedlinburg ging es südlich Ascherslebens in die Gegend von Alsleben, südlich Köthens in Richtung auf das Industriegebiet von Wolfen und Bitterfeld; diese beiden Städte wurden wieder durchlaufen. Von dort durchquerten wir die Dübener Heide auf großen Umwegen nach Düben.“ Hier überschritt die Kolonne die Mulde und bewegte sich weiter nach Pretzsch, wo sie die Elbe querte.

Von Pretzsch nach Jessen

Die weitere Route beschreibt Joachim Weidauer so: „Durch die Ebene gelangten wir nach Jessen, durchschritten die Stadt und zogen über Rehain, Ruhlsdorf, Gen- tha, Lüttchenseyda und Meltendorf weiter. Zwischen Meltendorf und Zemnick (!) löste ich mich vom Zuge, der sich dann in der Nähe von Zahna, etwa bei Leetza, restlos aufgelöst haben soll... Als ich mich vom Zuge löste, bestand dieser höchstens noch aus 300 Mann. Nur wenige waren entkommen, fast alle anderen lagen tot am Rande des furchtbaren Weges.“

Aufgrund seiner Nachforschungen kann Dietmar Steinecker den Verlauf des Marsches der Kolonne, zu der Joachim Weidauer gehörte, diesseits der Elbe etwas konkreter fassen. Demnach führte ihr Weg, wie er sagt, „über Mauken, Kleindröben, Rettig und Klöden (Umweg) nach Rade oder über Mauken, Düßnitz nach Rade, wobei sich dann der Kringel über Rettig und Klöden anschloss, bevor es nach Battin, Grabo und Jessen ging“.

Bis Leetza hat dann Dr. Weidauer den Verlauf des Marsches „seiner Gruppe“ recht genau wiedergegeben. Wobei aber auch in Raßdorf Häftlinge gesichtet wurden. Erst zum Geschehen ab dem Raum Leetza-Zahna tun sich dem Genthaer Hobby-Historiker noch größere Fragezeichen auf, die er hofft, mit Hilfe weiterer Zeitzeugen bald ausräumen zu können. Nach Leetza gelangten seiner Kenntnis zufolge nämlich zwei Häftlingsgruppen.

Die eine kam, wie Joachim Weidauer berichtet, über Meltendorf und Zemnick. Eine weitere muss jedoch über Seyda und Zallmsdorf dorthin gelaufen sein. Beide haben sich vermutlich bei Zahna aufgelöst. Ein Teil der Häftlinge habe sich, davon geht Dietmar Steinecker aus, anschließend in Richtung Jüterbog entfernt. Ein anderer Teil sei wohl über Zahna und weitere Orte (Bülzig, Labetz) nach Wittenberg und sogar noch darüber hinaus (Apollensdorf, Griebo, Coswig und Buro) gezogen.

Bericht aus Zemnick

Zu den Todesmärschlern, die durch Zemnick gekommen sind, liegt Dietmar Steinecker ein Zeitzeugen-Bericht von Elly Zimmermann aus dem Jahr 1996 vor.

Darin erinnert sich die Zemnickerin: „Ich war damals 25 Jahre und werde den Anblick, der sich mir in den letzten Tagen vor Kriegsende bot, nie vergessen. Hunderte hilfloser Menschen, abgemagert und gebrechlich, wurden von bewaffneten SS-Leuten durch unseren Ort getrieben.In der damaligen Zeit hatten wir noch nie von solchen Lagern gehört und waren fassungslos... Auf einem Feldweg aus Richtung Meltendorf kamen die KZ-Häftlinge durch unseren Ort und bewegten sich auf einem Feldweg durch ein großes Wiesengebiet in Richtung Leetza. Hinter unserem Ort fielen einige Schüsse. Die Männer, die nicht mehr konnten und liegen blieben, wurden wahrscheinlich erschossen. Von Einwohnern unseres Dorfes mussten sie später am Wegesrand begraben werden“, berichtet Elly Zimmermann und schließt in ihrem Schreiben an: „Auf dem Weg von Meltendorf nach Zemnick - ein Waldgebiet - konnten sich wohl einige unbemerkt entfernen. Denn wie mir bekannt ist, wurde zumindest ein Häftling von einem Bauern an einer Kartoffelmiete am Waldesrand aufgefunden. Er nahm ihn mit nach Hause und hat ihn bis zum Eintreffen der Russen und sogar noch einige Zeit nach Kriegsende verpflegt. Dann hat sich der Mann auf den Weg in die Heimat gemacht. Es war ein Franzose.“

In Leetza gesichtet

Ein weiteres Puzzle-Steinchen zur Erhellung regionaler Ereignisse um den Todesmarsch konnte Reinhard Lehmann (Jahrgang 1934) aus Leetza beitragen. Im Dezember 2018 gab er zu Protokoll: Am Sonntag, 22. April 1945, erreichte die Rote Armee Leetza. Unmittelbar davor - ganz genau konnte er sich nicht mehr erinnern - näherte sich auf dem Feld- und Wiesenweg von Zemnick her eine Marschkolonne. Für ihn sahen die meist jungen Männer aus wie Häftlinge oder Gefangene. Sie trugen gestreifte Häftlingskleidung. Sie wirkten abgemagert, krank und extrem hungrig. Ein Großteil schleppte sich nur so dahin. Viele konnten vor Entkräftung kaum noch laufen. Einzelne wurden von anderen gestützt. Rechts und links liefen in Abständen uniformierte Deutsche mit Gewehren. Es wurde mehrfach geschossen.

Für Reinhard Lehmann war schnell klar, dass wer schlapp machte, erschossen wurde, und wer versuchen sollte zu fliehen, ebenfalls. Mehrfach wurden Taumelnde mit Tritten und mit Gewehren im Anschlag aufgefordert, weiter zu laufen. Teilweise stieß man sie mit den Gewehren, damit sie vorwärts gingen, oder es wurde vorbei geschossen, auf dass sie sich wieder hochrappelten. Beim zweiten Grundstück im Ort blieb einer der Gefangenen liegen, ein völlig entkräfteter Mann. Er wurde an Ort und Stelle erschossen und liegen gelassen. Das war offensichtlich Routine. Die Bewacher trieben die Kolonne regelrecht durch Leetza, weiter in Richtung Zahna.

Mehrere Erschießungen

Zum Ortsausgang hin, rechtsseitig hinter der Linkskurve, wurde ein zweiter Häftling erschossen. Augenscheinlich konnte er nicht mehr. Auf dem anschließenden Acker (heute Betriebsgelände der Agrargenossenschaft Leetza) befand sich ein Strohdiemen. Hier versuchte ein Häftling zu fliehen. Er lief in Richtung Strohdiemen. Die Bewacher schossen hinter ihm her. Ob er getroffen wurde oder ob die Flucht gelang, konnte Reinhard Lehmann nicht sagen. Er sprach jedenfalls von einer langen Marschformation - „mehrere hundert Leute müssen das gewesen sein, ... die Kolonne hat die volle Breite der Dorfstraße ausgefüllt, ... sie wollte kein Ende nehmen“.

Joachim Weidauer formulierte 1954: Für die ständig in Marsch gehaltenen Häftlinge gab es anfangs „einmal täglich Verpflegung, vom fünften Tag an nichts mehr... Versuchten barmherzige Menschen, den Elenden, mit dem Tode Ringenden einen Schluck Wasser aus der Haustür herauszureichen, dann schlugen die SS-Männer nicht nur auf die Häftlinge, sondern auch auf die ein, denen noch ein Herz für die Unglücklichen im Leibe schlug.“ (mz)