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Schulsozialarbeit in Jessen Schulsozialarbeit in Jessen: Die Schutzengel-Methode

Von Ute Otto 12.01.2018, 13:52
Anja Wiesegart, 38 Jahre alt, ist seit zweieinhalb Jahren Schulsozialarbeiterin im Gymnasium Jessen.
Anja Wiesegart, 38 Jahre alt, ist seit zweieinhalb Jahren Schulsozialarbeiterin im Gymnasium Jessen. Ute Otto

Jessen - Das Büro von Schulsozialarbeiterin Anja Wiesegart, liegt im hinteren Teil eines Hauptflurs, etwas abseits vom großen Trubel im Gymnasium Jessen. Es ist freundlich eingerichtet, neben dem Schreibtisch gibt es eine Sitzecke für Vier-Augen-Gespräche, an den Wänden hängen Fotocollagen von den Ferienfreizeiten, die sie organisiert hat, und vom Ausflug der Streitschlichter-AG.

Draußen an der Tür hängt ein Zettelblock samt Stift, daneben ein kleiner Briefkasten, für den Fall, dass die Schulsozialarbeiterin gerade mal nicht anzutreffen ist.

Ohnehin sitzt diese nicht den ganzen Tag in ihrem Büro und wartet, dass die Schüler zu ihr kommen. Im Gegenteil, und das konnte die MZ einen Tag lang an ihrer Seite erleben: Schulsozialarbeit heißt für Anja Wiesegart, zu den Schülern hinzugehen.

Sie bringt sich ein in verschiedene Projekte wie am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien die Literaturtage der Zehntklässler und das Kochen mit dem Lateinkurs im Jugendclub. Außerdem leitet sie 14-täglich dienstags die Arbeitsgemeinschaft Streitschlichter.

Keine Frage der Schulform

Der Arbeitstag der 38-Jährigen aus Mühlanger beginnt morgens vor dem ersten und endet nach dem letzten Schulklingeln. Allerdings ist sie nicht im Schuldienst. Die Schulsozialarbeiter sind bei freien Trägern der Jugendhilfe angestellt. Arbeitgeber von Anja Wiesegart ist der Internationale Bund Wittenberg.

30 Schulsozialarbeiter sind im Kreis Wittenberg an insgesamt 32 Bildungseinrichtungen aller Schulformen tätig. Als einziges der vier Gymnasien im Kreis ist das Jessener dabei.

Die Sozialarbeiter als Bindeglied zwischen Schule und Jugendhilfe sind bei unterschiedlichen freien Trägern angestellt, das sind der Internationale Bund, die Arbeiterwohlfahrt, die Volkssolidarität und Resowitt.

Die Förderung der Schulsozialarbeiter durch den Europäischen Sozialfonds läuft noch bis zum 31. Juli 2020. Der Kreistag Wittenberg hat sich im Juni 2017 dazu bekannt, bei auskömmlicher Finanzierung durch das Land die Fortführung der Schulsozialarbeit darüber hinaus zu sichern.

Koordiniert wird die Schulsozialarbeit durch die Netzwerkstelle „Schulerfolg sichern“ in der Kreisverwaltung Wittenberg. Dort werden die Schulsozialarbeiter fachlich beraten. Zugleich ist es eine Plattform für den Erfahrungsaustausch.

Monika Kaufhold, Leiterin des Jessener Gymnasiums mit rund 660 Schülern, sieht in dieser Konstellation eine wichtigen Basis für das Vertrauen zwischen Schülern und Sozialarbeiterin. „Sie ist jemand, der weder Leistungen noch Sozialverhalten

der Schüler beurteilt.“ Manche Schulleiter-Kollegen hätten verwundert reagiert, als sich die Direktorin vor drei Jahren bei der Netzwerkstelle „Schulerfolg sichern“ in der Kreisverwaltung um eine Schulsozialarbeiterin für ihr Gymnasium bewarb. Für Monika Kaufhold ist die Notwendigkeit nicht von der Schulform abhängig.

„Wir haben es überall mit Heranwachsenden zu tun, die persönliche Probleme haben und mit jemandem reden wollen“, sagt sie. Die Lehrer würden das schon zeitlich nicht schaffen. Manche Teenager möchten in bestimmten Fragen nicht einmal die Eltern ins Vertrauen ziehen. „Denken wir nur mal an allein erziehende Väter von Mädchen“, nennt Kaufhold als Beispiel.

Hoher Leistungsdruck

Aber es gebe auch spezielle Probleme am Gymnasium: zu ehrgeizige Schüler etwa, die an eigenen oder den Leistungsansprüchen ihrer Umwelt zu zerbrechen drohen. Bei älteren Schülern, die Medizin studieren wollen, komme das nicht selten vor. Ein wichtiger Ansatzpunkt der gemeinsamen Arbeit von Pädagogen und Schulsozialarbeiterin ist der Klassenverband. Dem Ankommen der fünften Klassen schenken sie viel Aufmerksamkeit.

Anja Wiesegart nimmt im ersten Jahr an den Klassenleiterstunden der Fünften teil. „Ich unternehme etwas mit den Klassen, damit wir uns kennenlernen.“ So könne Vertrauen wachsen, „und dann kommen die Schüler von allein mit ihren Sorgen“.

Für die Vier-Augen-Gespräche nutzten die Schüler von sich aus Pausen oder Freistunden, nur in dringenden Fällen wird Unterrichtszeit geopfert. Manchmal kämen drei, vier Schüler hintereinander, dann wieder tagelang keiner. An bestimmten Zeiten festzumachen sei das nicht. Allerdings spürt auch die Schulsozialarbeiterin, „dass am Ende der Woche die Luft raus ist, vor allem in der dunklen Jahreszeit“.

„Ich bin dankbar über die Schulsozialarbeit“, sagt auch Elisa Opitz-Schöße, eine junge Lehrerin, die unter anderem Latein unterrichtet. Sie sei zuvor in Berlin an einer Schule mit 1.200 Schülern und nur einer halben Stelle für Sozialarbeit gewesen.

„Ich kann mich jederzeit an sie wenden, wenn ich merke, da stimmt etwas nicht mit einem Schüler oder mit der Gruppenbildung. Da fühlt man sich nicht allein allein gelassen.“ Auf die Unterstützung könne sie nicht nur in Konfliktfällen zählen. „Sie hat mir den Kontakt zum Jugendclub und der Stadtjugendpflegerin vermittelt.“

So ist es zum Beispiel möglich, dass die Lehrerin mit den Schülern für das „Kochen wie die alten Römer“ die Jugendclubküche nutzen kann. Und dabei geht die Schulsozialarbeiterin ihr und den Schülern ganz praktisch zur Hand. Der Kontakt zwischen Wiesegart und den Schülern ist spürbar unbefangen.

Der rote Faden

Als Diplompädagogin mit 14 Jahren Berufserfahrung hat Anja Wiesegart ein sicheres Gespür dafür, wo die Ursachen liegen, wenn es in einer Klasse Reibungen gibt. „Wir hatten mal eine Klasse, da sind die Schüler furchtbar unachtsam miteinander umgegangen“, erzählt sie, die selbst Mutter eines achtjährigen Sohnes ist.

„Wir haben das mit der Schutzengel-Methode lösen können.“ Dabei seien die Schüler aufgefordert worden, einen Tag lang für einen Mitschüler anonym den Schutzengel zu spielen, ihn wertschätzend zu behandeln, ihm etwas Gutes zu tun.

Es habe funktioniert, die Schüler seien selbst erstaunt gewesen und hätten begriffen, dass es oft Nichtigkeiten sind, an denen sie sich aufreiben. Mobbing werde so der Boden entzogen.

„Wir haben auch Rückmeldungen von Eltern, dass sich ihre Kinder in dieser Schulatmosphäre wohl fühlen.“ Sicher, stimmen Sozialarbeiterin und Lehrerin zu, habe das auch etwas damit zu tun, dass die Kinder und Jugendlichen in der Kleinstadt besser verortet sind als in Großstädten.

Das Thema „gewaltfreie Kommunikation“ ist der rote Faden, der sich durch das Berufsleben von Wiesegart zieht. Es begann 2004 in der Suchtberatung

der Paul-Gerhardt-Diakonie. Ab 2007 war sie als Mitarbeiterin der mobilen Präventionsberatung mit Projekten in Kindergarten und Grundschulhorten unterwegs. Nun ist es Kern der Streitschlichter-Ausbildung der Schul-AG, die die Sozialarbeiterin „auf Wunsch der Schule und der Eltern“ ins Leben gerufen hat, die sie mit Elisa Opitz-Schöße leitet.

Im Kleinen wie im Großen

15 Schüler der siebenten bis zehnten Klassen nehmen teil. „Sie mussten sich bewerben“, berichtet die Sozialarbeiterin. Ein Schuljahr ist eingeplant für die Ausbildung, vor dem Zertifikat am Ende steht eine Prüfung. An diesem Tag geht es um das Training des aktiven Zuhörens. Durch Haltung, Blickkontakt, Mimik,

Gestik und und Ich-Botschaften sollen die angehenden Streitschlichter dem Gesprächspartner vermitteln: „Schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast, ich habe Zeit für Dich“. Dabei lernen sie, dass sie mit Verurteilungen und Bewertungen von Handlungsweisen bei ihrem Gegenüber die Tür zuschlagen würde. „Eure Aufgabe ist es, wertneutral zu beraten und Hilfe anzubieten“, sagt Anja Wiesegart zu den Mädchen und Jungen. Es ist das, was die Schulsozialarbeiterin im Großen täglich praktiziert.

Für Monika Kaufhold ist nach nunmehr 2,5 Jahren die Schulsozialarbeit eine „wichtige Größe“ geworden. Und die Leiterin steht mit ganzem Herzen dahinter. Im Bestreben, bestmöglich davon zu profitieren, nimmt sie gemeinsam mit Anja Wiesegart an den Fortbildungsveranstaltungen des Begegnungsforums „Schule und Schulsozialarbeit“ im Kloster Drübeck teil.

„Wir möchten die Schulsozialarbeit auch über 2020 hinaus fortführen, weil das für die Schüler wichtig ist“, sagt Kaufhold. „Und wir brauchen dabei auch personelle Beständigkeit.“ (mz)