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Obdachlos in Jessen Obdachlos in Jessen: Mario Schindler findet Hilfe in Annaburg

Von Thomas Tominski 04.04.2018, 08:30
Mario Schindler hat mit seiner Schäferhündin Ostern auf der Straße gelebt. Jetzt hat er ein Quartier in Annaburg gefunden.
Mario Schindler hat mit seiner Schäferhündin Ostern auf der Straße gelebt. Jetzt hat er ein Quartier in Annaburg gefunden. Thomas Tominski

Jessen - „Das ist ja wie im Film“, sagt Mario Schindler und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Mit dieser Kehrtwende hat der 37-Jährige nicht gerechnet. Er sitzt in der Lokalredaktion der Mitteldeutschen Zeitung, spricht mit zitternder Stimme über persönliche Tiefschläge, Zurückweisungen, Arbeits- sowie Obdachlosigkeit und ist völlig ratlos, wie er diese Talfahrt beenden kann.

Das Telefon klingelt. Sabrina Ullrich aus Annaburg bietet überraschend ihre Hilfe an. Die junge Frau erzählt, dass sie auf der Facebook-Seite von Mario Zastrow aus Wittenberg den Hilferuf gelesen hat und Baujahr 1980 wie Schindler ist.

„Das verbindet“, meint die 37-Jährige und betont, dass ihr Herz groß ist. „Ich habe selber in einer WG gelebt und weiß, wie schwierig es sein kann, Wohnraum zu finden“, so Sabrina Ullrich.

Aufnahme ohne Vorurteile

Die Verkäuferin aus Annaburg bietet Schindler, der aus Jessen stammt und die letzten Jahre in Köln gelebt und gearbeitet hat, eine Unterkunft an, wo er mit seiner Schäferhündin „die nächsten Tage“ leben kann. „Es ist schon ein großer Vertrauensvorschuss. Ich kenne den Mann nicht.“

Trotzdem geht sie die Sache vorurteilsfrei an. Jeder Mensch braucht ein Dach über dem Kopf, ein Bett und muss sich wenigstens einmal am Tag waschen. Deshalb sei es nicht ausgeschlossen, dass Schindler ein paar Tage länger in Annaburg bleibt.

Der 37-Jährige hört das Gespräch mit und ist wie eingangs erwähnt tief gerührt. Die Chance, wieder ein normales Leben zu führen, bekommt er völlig unverhofft auf dem silbernen Tablett serviert. „Ich werde sie nutzen“, sagt er und hat mit den Tränen zu kämpfen. Die Tage nach seiner Ankunft am 31. März in Jessen haben mental Spuren hinterlassen.

Schindler verkauft alle Wertgegenstände, verlässt Köln auf Nimmerwiedersehen und visiert in seiner früheren Heimatstadt einen Neustart an. „Die Verwandtschaft hat mich nicht aufgenommen“, sagt er. Schindler will diesen Satz nicht als Anklage verstanden wissen. Der 37-Jährige habe seinen Besuch zwar angekündigt, doch in puncto Aufnahme mehr auf das Prinzip Hoffnung gesetzt. Im Endeffekt sei er mit seiner Hündin auf dem Bahnhof gelandet.

Warmes Essen bei Kälte

Der Helfer in der Not heißt Michael Bartisch. Er spricht den gebürtigen Wittenberger an und erkundigt sich nach dessen Problem. „In der Großstadt hätte sich niemand um mich gekümmert“, ist sich Schindler sicher. Bartisch versorgt zusammen mit Partnerin Sonja Hangarter den 37-Jährigen und dessen Hündin über Ostern.

„Es war kalt. Er brauchte warmes Essen“, erklärt Sonja Hangarter, die Schindler zum Gespräch in die Redaktion begleitet. Der Jessener, der früher mit seiner Mutter in der Langen Straße gewohnt hat, macht um seinen Schlafplatz ein Geheimnis. „Es war in Bahnhofsnähe“, lässt er durchblicken und verrät, dass dieser Ort als Treffpunkt ausgemacht gewesen sei. Wenn Schindler über die Achterbahnfahrt in seinem Leben spricht, sucht er nicht nach einem Schuldigen.

Seine Mutter ist mit ihm nach der Wende aufgrund besserer beruflicher Perspektiven „in den Westen“ gegangen. Der heute 37-Jährige macht eine Ausbildung zum Fahrzeuglackierer, hat laut eigenen Angaben „für große Firmen“ gearbeitet, zieht von Grevenbroich nach Köln und steht bis Januar 2018 mit beiden Beinen im Leben. Nach der Kündigung durch Arbeitgeber und Vermieter fasst Schindler den Entschluss, nach Jessen zurückzukehren.

„Es war für mich ein Schock, plötzlich auf der Straße zu leben.“ Das Angebot der Stadt Jessen (Ordnungsamt), in die Obdachlosenunterkunft in Klöden ohne Schäferhündin zu ziehen, schlägt er aus. „Im Tierheim geht sie mir ein. Der Hund ist auf mich fixiert“, erklärt er seine Beweggründe.

Der Anruf von Sabrina Ullrich lässt Schindler auf Wolke sieben schweben. Er packt seine Sachen in das Auto von Sonja Hangarter und fährt mit ihr nach Annaburg. „Ich brauche eine feste Adresse“, sagt er. Für die Anmeldung beim Arbeitsamt, zur Eröffnung einer Bankverbindung, für einen Nachsendeauftrag bei der Post. Ein Schwall von Glücksgefühlen sorgt wieder für rote Augen. (mz)