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Kriegsende im Kreis Wittenberg Kriegsende im Kreis Wittenberg: Martyrium hat sich ins Gedächtnis gebrannt

Von Sven Gückel 17.04.2015, 17:19
Häftlingsgruppen wie diese heimlich aus einem Fenster heraus aufgenommene, waren für die Einwohner der Stadt Prettin während der NS-Zeit kein seltenes Bild.
Häftlingsgruppen wie diese heimlich aus einem Fenster heraus aufgenommene, waren für die Einwohner der Stadt Prettin während der NS-Zeit kein seltenes Bild. Sammlung Gedenkstätte KZ Lichtenburg Prettin Lizenz

Prettin - Spätestens im April 1945 wurde wohl den letzten Deutschen klar, dass der Krieg für ihr Land verloren war. Dem Ende der Kämpfe, und damit ihrer Befreiung, fieberten auch die Häftlinge vieler Konzentrationslager entgegen. Doch statt der ersehnten Freiheit stand den meisten von ihnen das schlimmste Martyrium ihrer Gefangenschaft erst noch bevor und das zwang sie auch in die Elbaue, wie den Franzosen Paul Clément Le Goupil.

Einzelhaft und Folter

Er hatte die Besetzung seines Landes durch die deutsche Wehrmacht nicht hingenommen, sondern engagierte sich aktiv im Widerstand. Zudem verweigerte der damals 21-Jährige 1943 den Arbeitsdienst für die Besatzer und reorganisierte eine Jugendwiderstandsgruppe. Seine Ergreifung und anschließende Verhaftung schien damit fast unausweichlich. Le Goupil wurde ins Gefängnis verbracht, erlebte Einzelhaft und Folter. Er überlebte Auschwitz und Buchenwald, ehe er nach Langenstein-Zwieberge deportiert wurde, einem von über einhundert Außenlagern des KZ Buchenwald. Mehr als 7.000 Menschen aus 23 Nationen waren hier allein von April 1944 bis Kriegsende inhaftiert, Hunderte von ihnen kamen zu Tode, darunter 700 Franzosen.

Etwa 30 Leichen des Todeszuges fanden ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof Prettin. Ihrer wird bis heute mit einer Mahntafel gedacht. Einige der Toten hatte die SS auf der Straße liegen gelassen, ehe sie durch Einwohner in Höhe des heutigen Netto-Marktes aufgereiht und mit Stroh bedeckt wurden.

Im Gedenken an die Befreiung aller KZ vor 70 Jahren wird es am 9. Mai in der KZ-Gedenkstätte Lichtenburg eine Veranstaltung geben, in der an den Todesmarsch erinnert wird. Es soll eine szenische Lesung aufgeführt werden, gestaltet von Jessener Sekundarschülern.

Die Gedenkstätte des KZ-Lichtenburg sucht zudem Zeitzeugen oder Inhaber historischen Bildmaterials, die den Todesmarsch der Häftlinge durch die Region dokumentieren oder belegen.

Weitergehende Informationen unter 035386/60 99 76

Angesichts des Anrückens der alliierten Kräfte wurde das Lager am Abend des 9. April 1945 durch die SS aufgegeben. Vier Tage zuvor, am 5. April, stellte die SS-Lagerführung sechs Marschkolonnen aus jeweils 500 von Hunger und Krankheit gezeichneten Häftlingen zusammen, um sie auf einen Todesmarsch zu treiben. Gegen Ende des Weges, der bis an den Ortsrand von Griebo hinter Wittenberg führte, waren weitere 2.500 Tote zu beklagen. Derweil blieben fast 2 000 Kranke und Marschunfähige in Langenstein-Zwieberge zurück, wo sie am 11. April durch amerikanische Einheiten befreit wurden.

Erinnerungen aufgeschrieben

Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die von der Qual dieser Todesmärsche berichten können. Dass der Lebensweg von Paul Clément Le Goupil durch die deutsche Hölle nachvollzogen werden kann, ist seiner Autobiografie zu verdanken, die er 1995 unter dem Titel „Erinnerungen eines Normannen, 1939-1945“ veröffentlichte. Darin ausführlich geschildert wird auch der Todesmarsch, in den er und seine Kameraden sich einreihen mussten. Quedlinburg, Ballenstedt, später auch Söllichau und Dommitzsch waren Stationen, die passiert wurden, ehe der Tross über die Elbe setzte und am 16. April nach Prettin kam. „Diese Bilder haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, die kann ich nicht mehr vergessen“, sagt Peter Scherf. Der 75-Jährige lebt heute in Chemnitz und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Prettin. An dem Tag, als der Häftlingszug den Ort erreichte, sei es unsagbar heiß gewesen, berichtet Scherf. „Ehe man die geschundenen Kreaturen in ihren gestreiften Anzügen sehen konnte, hörte man schon von weitem das Schlurfen ihrer Holzpantinen“, gibt er aus seiner Erinnerung preis. Stark ins Gedächtnis eingeprägt haben sich ihm darüber hinaus die flehenden Rufe der Häftlinge nach etwas Wasser. Einzelne Anwohner wären diesem Bitten gefolgt und hätten Eimer mit Wasser in der Lindenstraße aufgestellt.

Gefäße umgestoßen

Doch dieses Mühen war nutzlos. Wohlgenährte, durchtrainierte junge SS-Männer in ihren akkuraten schwarzen Uniformen hätten die Eimer allesamt mit Stiefeltritten umgestoßen. „Kein Häftling hatte sich zuvor getraut, die Eimer anzurühren“, sagt Peter Scherf. Vor Augen hat Scherf zudem das Bild eines Häftlings, der sich die gesamte Zeit eine Keramikschale vor das Gesicht hielt. Einzig aus dem Grund, damit kein Blut seines zerschlagenen Gesichts auf die Straße tropfte. Eine Auflage der SS-Männer an ihn.

Drei Tage lagerte der Zug vor den Toren der Stadt in einem nahe gelegenen Waldstück. Als er am 19. April in Richtung Jessen aufbrach, kamen die inzwischen befreiten 21 000 Häftlinge des KZ Buchenwald bereits zu einer Trauerkundgebung zusammen, bei der sie einen Schwur ablegten. Darin gelobten sie die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln und den Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit.

Ein neues Leben in Freiheit begann für Paul Clément Le Goupil erst am Abend des 21. April 1945. Die SS trieb die verbliebenen Häftlinge auseinander, um sich selbst vor den Truppen der Roten Armee in Sicherheit zu bringen. (mz)