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Kreis Wittenberg Kreis Wittenberg: Schicksale von Vertriebenen lösen Betroffenheit aus

Von FRANK GROMMISCH 16.10.2011, 18:21

HOLZDORF/MZ. - "Wir wollen alle gemeinsam eine gute, gesunde und friedliche Zukunft haben." Manfred Lau beendete mit diesem Wunsch, der von den wohl 90 Zuhörern mit kräftigem Applaus Unterstützung fand, die heimatkundliche Lesung des Heimatvereins. Zuvor waren Schicksale von Holzdorfern in Folge des Zweiten Weltkriegs zur Sprache gekommen, die so anrührend geschildert wurden, das einige Zuhörer Tränen nicht unterdrücken konnten. Auch wenn das Erlebte über 60 Jahre zurückliegt, vergessen ist es nicht. Und soll es auch nicht werden.

Gerade aus diesem Grund hatte sich der Heimatverein diesmal für das Thema "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" entschieden, da zu DDR-Zeiten hierzu viel verschwiegen wurde und es heutzutage immer schwieriger wird, noch Personen zu finden, die aus eigenem Erleben über die schweren Jahre und das kaum vorstellbare Leid, das ertragen werden musste, berichten können. 16 Millionen Menschen, informierte Ingeborg Lau, mussten als Folge des verheerenden Weltkriegs ihre angestammte Heimat verlassen. Viele davon waren 1945 wochenlang auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Etliche überlebten die unsagbaren Strapazen nicht. Besonders ging die Referentin auf die Rolle der Frauen ein. "Sie haben in dieser Zeit Heldenhaftes geleistet." Da die Ehemänner im Krieg waren, mussten sie Führungsrollen übernehmen, Kinder und Eltern beschützen, Trecks führen und zugleich waren sie selbst massiv bedroht, Opfer von Vergewaltigungen zu werden.

Städte und Gemeinden waren nicht auf die Unterbringung Millionen Heimatloser eingestellt. Allein in der sowjetischen Besatzungszone soll es 588 Lager gegeben haben, in denen sie aufgenommen wurden. Etwa 400 Frauen, Männer und Kinder fanden aus den deutschen Ostgebieten oder aus dem Sudetenland kommend in Holzdorf, in dem damals etwa 750 Leute lebten, eine Unterkunft. "Das lief nicht konfliktlos ab", so Manfred Lau. Und so reichte die Palette der dem Heimatverein übermittelten Erinnerungen der Betroffenen an das Aufeinandertreffen mit Holzdorfern von Verständnislosigkeit und verschlossenen Türen über Mitleid bis zur tatkräftigen Hilfsbereitschaft. Im Gegensatz zu den Erwachsenen sei es den Schülern leichter gefallen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. "An nennenswerte Probleme kann ich mich nicht erinnern", berichtete Manfred Lau aus seiner Schulzeit. Heute leben noch etwa 50 Familien, die selbst oder deren Vorfahren vertrieben wurden, in Holzdorf. Aus dem Sudetenland kam Elfriede Brünnich mit ihrem Sohn nach Holzdorf. Innerhalb von zehn Minuten, so berichtete sie, musste sie im August 1945 ihr Haus verlassen. Abgekämpft kamen sie nach Wochen in Holzdorf an, Stationen auf dem Weg ins Ungewisse waren neben anderem nach einer Zugfahrt im Viehtransporter Pirna und einer Schifffahrt elbabwärts Riesa. Die erste Unterkunft in Holzdorf fanden sie in einer Scheune. Noch gut erinnern kann sich die heute 96-Jährige, als sie neben der einstigen Molkerei in einem Haus ein Zimmer beziehen konnten. Viele Jahre arbeitete Elfriede Brünnich in der Molkerei und später in der Schule. "Mit dem, was wir geleistet haben, brauchen wir uns nicht zu verstecken", sagte sie. Der Glaube an Gott habe ihr geholfen, das alles durchzustehen. Wenn heute ein einstiger Vertriebener sage "Ich bin jetzt ein alter Holzdorfer", freue ihn das, so Manfred Lau. "Das zeigt doch, dass die Integration gelungen ist."

Von zwei Gästen aus Brandis im Nachbarkreis Elbe-Elster bekam der Referent am Rande der heimatkundlichen Lesung eine Ablichtung einer Zeitungsseite überreicht. Darauf wird über die Eröffnung des Landwarenhauses 1956 berichtet. Die Überschrift "Holzdorf rückt näher an die Stadt". Dass Holzdorf selbst einmal Stadtteil wird, nämlich von Jessen, hat sich damals wohl niemand vorstellen können. Vielleicht wird auch dieses Thema mal im Holzdorfer Heimatverein aufgegriffen.