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Zugunglück von 1984 bei Halle Zugunglück 1984 in Hohenthurm bei Halle: Nebelfahrt in die Katastrophe

29.02.2020, 11:00
Aufräumarbeiten nach dem Bahnunfall in Hohenturm vor 25 Jahren.
Aufräumarbeiten nach dem Bahnunfall in Hohenturm vor 25 Jahren. Grubitzsch

Hohenthurm/Halle (Saale) - Am 29. Februar 1984 ereignete sich in Hohenthurm ein schweres Zugunglück mit elf Toten und 46 Verletzten.

25 Jahre nach dem Zugunglück berichtete die MZ 2009 erstmals in einer großen Reportage von den Geschehnissen in Hohenthurm und sprach mit Zeitzeugen. Auf der kommenden Seite lesen Sie den Originalbericht aus der MZ vom 1. März 2009. Ein Video von TV Halle zum Unglück finden Sie hier. 

MZ-Bericht vom 1. März 2009 zum 25. Jahrestag des Zugunglücks von Hohenthurm

Von Antonie Städter

Abgesehen von der Tatsache, dass es ein 29. Februar war, handelte es sich bei diesem Tag im Jahr 1984 für Heinz Proft um einen ganz normalen Mittwoch. Der junge Berufsschullehrer in Bitterfeld war wie immer um diese Zeit auf dem Weg von der Arbeit nach Halle-Neustadt, wo er wohnte.

Im "Schichterzug", wie der damals genannt wurde, weil er zur Feierabendzeit fuhr und die vielen Arbeiter nach Hause brachte. Proft hatte einen Studienkollegen getroffen und unterhielt sich mit ihm gemütlich im vorletzten Waggon.

Auch für die 54-jährige Lina Henze, Schrankenwärterin in Hohenthurm nahe Halle, hatte der Tag ganz gewöhnlich begonnen. Sie war gut aufgelegt an jenem Nachmittag. Eigentlich hätte sie längst Dienstschluss gehabt, doch ein Kollege wollte seinen Ausstand geben. Sie war also gerade dabei, Kaffee zu kochen, als der Anruf kam, der alles veränderte.

Extremer Nebel führten zu Sichtweiten von nur fünf Meter

Da sei ein D-Zug trotz Haltesignal durch Landsberg in Richtung Hohenthurm gerauscht. Dort jedoch hatte gerade ein Personenzug Aufenthalt. Jener, in dem auch Heinz Proft saß. Bei extremem Nebel betrugen die Sichtweiten zum Teil nur fünf Meter.

"Was sollen wir jetzt machen?", wurde Lina Henze vom Fahrdienstleiter gefragt, der den Anruf angenommen hatte. "Er hatte das noch nicht einmal ausgesprochen, da gab es draußen einen Riesenknall", erinnert sich die heute 79-Jährige.

Erfurter Lokführer überlebte Unglück schwer verletzt

Was in diesen Sekunden geschah, zählt zu den schwersten Eisenbahnunglücken in Deutschland. Der D-Zug, ein Interzonenzug auf der Fahrt von Berlin nach Saarbrücken, war mit Tempo 40 auf den Personenzug gekracht, nachdem der Lokführer bei dichtem Nebel mehrere Haltesignale nicht beachtet hatte.

Womöglich war er davon ausgegangen, dass er freie Fahrt habe, wie es für Interzonenzüge üblich war. Der Erfurter, der den Zug in den Mittagsstunden übernommen hatte, überlebte den Aufprall schwer verletzt. Fünf Monate später wurde er zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Bergungsarbeiten nach dem Zugunglück bei Hohenthurm dauern bis in die Morgenstunden

Nach den Bergungsarbeiten, die bis zu den Morgenstunden andauern, sind in dem Personenzug elf Tote zu beklagen. 46 Menschen sind verletzt. Heute, 25 Jahre später, erinnern sich jene, die das Unglück miterlebten, mit Grausen daran. "Halb fünf wurde der letzte Tote rausgeholt. Ich sollte eine Plane besorgen. Dann konnte ich nach Hause gehen", erzählt Henze. Sie sei dann ins Bett gekrochen und drei Stunden später wieder aufgewacht - "da kamen die Tränen".

Heinz Proft hatte das Glück, dass er nicht im letzten Waggon saß. "Es gab plötzlich einen Schlag. Die Leute schrien. Ich habe kurz die Orientierung verloren, aber dann sind wir raus aus dem Zug - niemand konnte sich erklären, was passiert war", erinnert er sich. "Doch dann sah ich, dass sich der letzte Wagen und die Schlusslok ineinander verkeilt hatten", so Proft. "Wäre die Schlusslok am Ende des Zuges nicht gewesen, hätte es sicher noch viel mehr Tote gegeben." Für den Lokführer des Personenzuges kam dadurch jedoch jede Hilfe zu spät.

59-Jähriger schaut auf das Zugunglück bei Hohenthurm zurück: „Das war wie ein zweiter Geburtstag für mich.“

Fassungslos steht an jenem neblig-kalten Mittwochnachmittag auch der Hohenthurmer Heinz Kaaden vor dem Zug. Er war gerade erst ausgestiegen, ein paar Schritte am Bahnhofsgebäude vorbeigegangen, das es damals noch gab - dann knallte es. "Ich stand erst einmal unter Schock", erzählt der 59-Jährige im Rückblick, der auch heute noch jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit fährt. Erst später ist ihm bewusst geworden: "Das war wie ein zweiter Geburtstag für mich." Er hatte im letzten Waggon gesessen.

"Das sind Bilder, die vergisst man nicht", sagt Dr. Walter Asperger, der damals als Notarzt zu dem Unglück gerufen wurde. Arme und Beine, die leblos unter den Sitzen hervorragen. Die junge Tote, die in der Gepäckauflage eingeklemmt war. Er habe nie im Notarztwagen fahren wollen, sagt Asperger, der heute Ärztlicher Direktor des halleschen Elisabeth-Krankenhauses ist. "Danach hat es mir nichts mehr ausgemacht - schlimmer konnte es ja nicht kommen."

Zugunglück bei Hohenthurm: Viele Leichtverletzte waren schnell versorgt

Die vielen Leichtverletzten waren schnell versorgt. "Problematisch wurde es bei jenen, die im Zug eingeklemmt waren. "'Holt mich hier raus' hat einer immer wieder geschrien", sagt Jürgen Niemann, der als Helfer der Freiwilligen Feuerwehr vor Ort war. Er war einer von rund 200 Einsatzkräften. Doch Geduld war gefragt.

"Wir hatten einen Schneidbrenner, aber den konnten wir wegen der Brandgefahr nicht benutzen", sagt Bernd Kollmorgen, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr Hohenthurm - damals und heute. Also kämpften sich die Kameraden mit gewöhnlichen Eisensägen, die sie sich von den umliegenden Betrieben geliehen hatten, an die Verletzten heran. "Irgendwann war ein Arm frei und wir konnten eine Infusion geben", beschreibt Asperger die Situation.

"Dass gerade ein Interzonenzug in den Unfall verwickelt war, hat zu großer Nervosität geführt. Wir durften nichts nach außen tragen", erinnert sich Kollmorgen. Nachts gegen halb eins war der letzte Überlebende, ein Mann Anfang 20, gerettet - mit gebrochenen Beinen und Unterkühlung. Asperger fuhr ihn in die Uniklinik nach Halle. Auch für die Kameraden der Feuerwehr war der Einsatz beendet.

Die Gedanken daran nicht. Denn zwar gibt es in Hohenthurm keine Gedenktafel, die an das Unglück erinnert - weil das damals in solch einem Fall nicht üblich war. Doch immer wenn Schaltjahr ist, so Kollmorgen, kommen die Erinnerungen an diesen 29. Februar hoch. (mz)