Zachow Stadtteilserie 17 Zachow Stadtteilserie 17: Giebichenstein

Halle (Saale)/MZ. - Was sich daran ablesen lässt: Die Bewohner sind ihrem Viertel innig verbunden. Warum das so ist – das sollen sie schon selbst erzählen: „Ich will hier gar nicht mehr weg“, sagt zum Beispiel Ulrike Feigl. Schon während ihres Kunstgeschichts- Studiums hat Gosenstraße, direkt neben dem Probensaal der Philharmonie im Bau des einstigen „Burg-Lichtspiel- Theaters“, gewohnt. Als junge Mutter wurde sie beim alltäglichen Gang zur Kita in der Rainstraße auf eine freie Wohnung gleich um die Ecke aufmerksam und zog 2004 ein. „Für Kinder ist das hier ein guter Ort zum Stromern. Saale und Peißnitzinsel sind ja zum Greifen nah.“ Für sie selbst ist neben dem vielen Grün namentlich das Lux-Kino am Zoo mit seinem vielfältigen Programmangebot eine besondere Attraktion.
Großes Kino im Zoo
Auf unserem Weiterweg entlang des Riveufers treffen wir Familie Neumann beim Entenfüttern. Seit 2002 wohnen sie im Kiez. „Die Nähe zum Zoo ist genial. Du holst die Knirpse aus dem Kindergarten ab und läufst einfach rüber“, sagt Vater Andreas. Die Jahreskarte für den inzwischen 111 Jahre alten Zoologischen Garten, der sich idyllisch den Reilsberg hinaufwindet, sei daher Pflicht. „Und im Winter gehen wir in Reichardts Garten rodeln.“
Ebenjener geht auf den Komponisten Johann Friedrich Reichardt (Foto, links) zurück, der ab 1794 in seiner „Herberge der Romantik“ Dichtergrößen wie Goethe, Eichendorff, Tieck, Novalis oder Brentano um sich versammelte. Dem Amtsgarten auf der gegenüberliegenden Seite der Seebener Straße an Schönheit gewiss nicht nachstehend, ist Reichardts Garten also auch ein höchst geschichtsträchtiger Ort – der einer Frau wie Claudia Dittmann das Herz schneller schlagen lässt. Die Deutsch- und Geschichtslehrerin ist in der Burgstraße aufgewachsen und wohnt heute unweit des Straßenbahndepots der HAVAG an der Seebener Straße.
Dittmann hat noch mehr Geschichte(n) parat: In der Jahn-Höhle in den Klausbergen habe sich der spätere Turnvater Friedrich Ludwig Jahn einige Tage vor Verfolgern versteckt und dort seine Schrift „Über die Beförderung des Patriotismus“ verfasst. Und die SPD habe mit dem 1906/07 an der Burgstraße errichteten Jugendstil-Gebäude des Volksparks dem halleschen Proletariat eine „Schutz- und Trutzburg“ schaffen wollen – pikanterweise direkt gegenüber der prunkvollen Villa des Bankiers Heinrich Ernst Lehmann. Am Ende des kleinen Plauschs nimmt uns die Pädagogin noch mit auf eine Zeitreise ins „Bermuda-Dreieck“ der Nachwendejahre. In dem vom Objekt 5, Gosenschänke und dem nicht mehr existierenden Café Bolldorf umgrenzten Kneipen-Areal „ist damals so mancher meiner Kommilitonen verschollen“, erzählt sie lachend.
Überhaupt: Das Objekt, die Gose, der bald schon 500 Jahre alte Gasthof zum Mohr, Alchimistenklause, Café Schade, Deix, Halbstark und „Il Rospo“ sind feste Größen in der halleschen Gastro- bzw. Clubszene. „Auch das macht unseren Kiez lebenswert“, meint Altpfarrer Rainer Katzmann, den wir auf dem Weg zu „seiner“ Bartholomäuskirche – in der übrigens Händels Eltern getraut wurden – begleiten. „Meine Frau und ich haben jüngst auch die Bootsschenke ,Marie Hedwig‘ am Riveufer für uns wiederentdeckt. Die litauische Kellnerin dort wird wohl von halb Halle angehimmelt“, sagt er lachend. Früher hätte er auch gern bei Live-Musik im Biergarten des Wittekind-Bades gesessen. Das vom legendärem Stadtbaurat Wilhelm Jost entworfene, 1925 fertiggestellte Gebäude-Ensemble steht seit 1992 leer und verfällt leider zusehends. Für Katzmann machen sowieso vor allem die Bewohner selbst den Charme des Viertels aus: Einer wie Gunnar Franke etwa, in dessen Laden an der Burgstraße sich Akademiker, Handwerker und Rentner gleichermaßen Zeitungen oder Tabak besorgen und „wo ich gern ein Schwätzchen halte“. Oder Bäcker Jürgen Weidner, bei dem es bereits ab 5 Uhr morgens frische Brötchen gibt. Oder Familie Mohs, die musizierenden Lebenskünstler vom „Trödeleck“. „Wissen Sie, ich habe die ,Endzeitstimmung‘ während der 80er Jahre hier miterlebt, als im Sommer die Saale stank und im Winter die Kohleöfen alles einnebelten. Es ist mir einfach eine Freude zu sehen, wie viele Familien und Kinder wieder hierher gezogen sind.“
Die Chagalls und Picassos von morgen
Das Schlusswort sei Claus Bräunig überlassen: Der 51-Jährige hat sich wohnsitztechnisch über Reil-, Leopold- und Mozartstraße immer mehr an das von ihm oft besuchte Landesmuseum für Vorgeschichte angenähert. Er sieht Giebichenstein „so ein wenig als das Montparnasse von Halle“. Und richtig, wenn man die hügeligen Gassen etwa zwischen Burgstraße und Gabelsbergerstraße durchstreift, wo Malergrößen wie Moritz Götze und Otto Möhwald, die Grafikerin Claudia Berg ihr Zuhause haben, sieht man sich tatsächlich an das berühmte Pariser Künstlerviertel erinnert.
Zudem: Im unteren Teil der namensgebenden Burg Giebichenstein sind, bereits seit 1922, Werkstätten der Staatlichen Kunsthochschule eingerichtet, in denen sich womöglich ein neuer Matisse, Chagall, Picasso, Miró oder Dali anschickt, die Kunstwelt zu erobern. Warum also wegziehen?
