Weihnachtsgespräch im Kreißsaal Weihnachtsgespräch im Kreißsaal: "Hauptsache es ist gesund"

Halle (Saale)/MZ - „Uns ist ein Kind geboren“, heißt es in einer Weihnachtskantate von Johann Sebastian Bach. Für Petra Kaltwaßer ist das Alltag: Die 58-Jährige ist Oberärztin am Zentrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Halle, der Kreißsaal ist Teil ihres Arbeitsplatzes. MZ-Redakteur Peter Godazgar sprach mit ihr.
Wissen Sie, bei wie vielen Geburten Sie dabei waren?
Kaltwaßer: (lacht) Nein, ich bin jetzt seit über 30 Jahren im Beruf, irgendwann hab ich’s aufgegeben, mitzuzählen.
Vierstellig?
Kaltwaßer: Mit Sicherheit.
Gibt es Geburten, die in der Erinnerung haften geblieben sind?
Kaltwaßer: Natürlich, viele, Mehrlingsgeburten zum Beispiel sind für mich immer etwas ganz Besonderes. Ich hab ja auch noch die Ära ohne Ultraschall erlebt und die Überraschung, wenn nach der Geburt des ersten Kindes auf einmal mit einem tiefen Atemzug der Frau ein zweiter Zwilling hinterherschlüpfte...Sehr berührend waren die Geburten meiner eigenen Enkelkinder.
Sie haben Ihren eigenen Enkelkinder auf die Welt geholfen?
Kaltwaßer: Ja, es waren die drei Kinder unserer mittleren Tochter, die mit ihrem Mann in Halle lebt. Das war natürlich aufregend. Beim letzten Kind waren wir den Kinderärzten der Neonatologie sehr dankbar, weil es einen Antikörperkonflikt gab, den sie wunderbar gelöst haben. Heute freut sich der kleine Kerl seines Lebens. Unser viertes Enkelkind ist in England geboren. Nur passiv in Gedanken dabei sein zu können war ganz schön schwer. Trotz der Entfernung besteht eine enge Bindung und große Sehnsucht, weil wir uns nur einige male im Jahr sehen können.
Nach so vielen Entbindungen: Haftet in Ihren Augen der Geburt noch etwas von einem Wunder an?
Kaltwaßer: Oh ja! Aber das eigentliche Wunder davor ist die Entstehung eines Kindes, der Funkenschlag zweier winziger Zellen, der zu so einem komplexen Wesen wie dem Menschen führt, eine unglaubliche Fügung der Natur. Mein eigentlicher Arbeitsplatz ist ja eigentlich die Kinderwunschsprechstunde. Vielen Paaren, die sich sehnlichst eine Schwangerschaft wünschen bleibt dies verwehrt und sie benötigen medizinische Hilfe. Gelingt es, oftmals nach langem Warten und Hoffen, dann ist es sehr erfüllend, vielleicht auch bei der Geburt dabei sein zu können. Dann schließt sich wieder der Kreis.
Sie werden vermutlich oft auf der Straße oder im Supermarkt angesprochen.
Kaltwaßer: An der Größe der Kinder erkennt man, wie relativ das Empfinden von Zeit ist. Der Sohn meiner besten Freundin, damals gerade mal 3 kg schwer, überragt mich heute locker um zwei Köpfe und ist selbst frischgebackener Vater. Er amüsiert sich, wenn wir von den etwas turbulenten Umständen seiner Geburt erzählen. Viele der Paare besuchen uns mit ihren Kindern oder man trifft sich im Alltag und bestaunt deren Entwicklung. Manchmal muss ich jedoch zugeben, dass ich mich an Details nicht mehr erinnern kann.
Sind Sie selbst noch nervös vor einer Entbindung?
Kaltwaßer: Nach so langer Zeit besitzt man schon eine reiche Erfahrung. Das gestattet mir größere innere Ruhe, denn Hektik ist immer schlecht für logisches Denken. Aber es gibt immer wieder Situationen, die heikel sind, in denen Dinge anders laufen als geplant. Ich hab mir außerdem geschworen, den Beruf nicht durch Abstumpfung zur Bürde werden zu lassen, ich hab ihn mir ja gewählt.
Sie arbeiten seit 33 Jahren in dem Beruf. Was hat sich in dieser Zeit geändert?
Kaltwaßer: Viel, sehr viel, auf allen Ebenen: Das Klinikum Kröllwitz war damals eine der ersten Kliniken der DDR, die Mutter und Kind im Rooming-in-System, also nicht voneinander getrennt versorgten. Die Männer durften von Anfang an ihre Frauen im Kreißsaal unterstützen, heute sind sie sogar beim Kaiserschnitt dabei, weil die Spinalanästhesie in den meisten Fällen die Vollnarkose ersetzt hat. Es werden zunehmend weniger Kinder geboren und das Alter der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes ist immer weiter nach hinten gerückt. Die Namen in den Geburtenbüchern sind exotischer und länger...Und natürlich ist alles viel transparenter geworden, im wahrsten Sinne des Wortes.
Was meinen Sie?
Kaltwaßer: Ich meine den technischen Fortschritt. Wir sehen inzwischen mit hochauflösendem Ultraschall auch mehrdimensional in den Mutterleib hinein. Bereits vor der Zeugung können wir am Eierstock die Follikel heranreifen sehen. Wir können die Zeit des Eisprungs exakt vorhersagen und schon sehr zeitig ein Fruchtbläschen in der Gebärmutter beobachten. Früher war eine Frau guter Hoffnung, heute sieht man nach drei Monaten Bewegtaufnahmen des kompletten Embryos. Wir wissen, schwangere Frauen und ihre Männer bauen heutzutage viel früher eine engere Verbindung zu ihrem ungeborenen Kind auf, weil die Visualisierung eine verstärkende Wirkung erzeugt.
Was ja nicht schlecht ist.
Kaltwaßer: Natürlich nicht. Vielleicht waren die Menschen früher im Fall eines Kindsverlustes fatalistischer. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als ihr Schicksal hinzunehmen. Liest man in den uralten Krankenakten von den vielen tragischen Verläufen, die mit heutigen Mitteln zu verhindern gewesen wären, bin ich schon froh, dass der medizinische Fortschritt viel mehr Sicherheiten in der gefährlichsten Phase für das Leben von Mutter und Kind bietet.
Heutzutage kann eine Schwangerschaft quasi vom ersten Tag an überwacht werden. Viele Risiken werden ausgeschlossen oder zumindest minimiert. Trotzdem scheint die Sorge der werdenden Eltern nicht abzunehmen.
Kaltwaßer: Oft stellen wir eine Schwangerschaft fest und binnen kurzer Zeit weicht die anfängliche Freude einer generalstabsmäßigen Planung der Überwachung, um bloß nichts falsch zu machen. Ich vermisse mehr und mehr das Bauchgefühl, die Schwangerschaft zu genießen, das Kind kommen zu lassen. Die meisten Schwangeren wünschen auch die maximale Absicherung vor schicksalshaften Verläufen. Der Wunsch heißt immer: Hauptsache es ist gesund.
Ist das nicht paradox? Alle Vorsorge führt uns immer nur vor Augen, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt.
Kaltwaßer: Ja, das ist so. Der Ultraschall zeigt lediglich morphologische Abweichungen, also Auffälligkeiten an Form und Struktur des Organismus. Die Pränataldiagnostiker können noch Fruchtwasser oder Chorionzotten entnehmen und Chromosomen analysieren, aber letztlich ist die Aussage auf wenige Veränderungen begrenzt. Was den wirklichen Wert menschlichen Lebens ausmacht ist mehr als die Summe einzelner Diagnosen.
Je mehr wir kontrollieren können, umso mehr merken wir, dass es diesen Absolutismus eben nicht gibt.
Kaltwaßer: Man muss ja zunächst mal fragen: Wonach suche ich überhaupt? Das Feld der künftig zu erkennenden Veranlagungen für Krankheiten ist unendlich. Will ich wirklich wissen: Wie hoch ist bei einem Embryo das Risiko, dass er später als erwachsener Mensch irgendwann mal Brustkrebs bekommt oder Diabetes?
Wie sehen sie diese Entwicklung?
Kaltwaßer: Ich wünschte mir, dass die Balance zwischen Hoffen und Wünschen zu einem maßvollen Einsatz der Diagnostik und Therapie führt. So beeindruckend die technischen Möglichkeiten auch sind, erlebt man die Tragweite von Entscheidungen oft als eine schwere Bürde. Wir müssen uns auch selbst immer wieder fragen: Wo soll die Grenze sein?
Diese Debatte wird nie enden.
Kaltwaßer: Und die Grenze ist dehnbar, welche Ansprüche wir an die Medizin von morgen haben hängt auch mit unseren Vorstellungen von Lebensqualität zusammen. Der Wissensdurst führt immer weiter, was uns dabei körperlich und seelisch guttut müssen wir selbst bestimmen können.
Der wichtigste Teil Ihrer Arbeit als Frauenärztin ist die Reproduktionsmedizin? Viele Eltern wünschen sich ein Kind, bekommen aber keines. Ist Kinderlosigkeit immer auch ein Makel?
Kaltwaßer: Kein Kind zu bekommen, wenn man es sich so sehr wünscht, stürzt eine Frau und einen Mann immer in eine große Krise. Sterilität ist eine von der WHO anerkannte Krankheit. Jedes betroffene Paar sollte ein Recht auf eine adäquate Diagnostik und Therapie haben. Heute wird mit dem Thema viel offener umgegangen als früher. Leider müssen für manche Behandlungsmethoden große Zuzahlungen geleistet werden. Das kränkt zusätzlich für etwas, wofür man nichts kann. Dank der modernen Medizin haben wir heute so viele Chancen zu helfen, dass es viele Kinder überhaupt nicht ohne unsere Unterstützung gäbe, wenn es auch immer mehr sein könnten. Es ist schon kurios: Berichten die einen Frauen davon, dass sie Angst haben, ihrem Chef die Schwangerschaft zu beichten, werden die anderen gefragt, warum sie denn endlich kein Kind bekommen wollen.
Nun taucht das Zentrum für Reproduktionsmedizin immer wieder auf Streichlisten auf.
Kaltwaßer: Eine ganz traurige Diskussion. Aus gesellschaftlicher Sicht können wir uns das meiner Meinung nach überhaupt nicht leisten. Jedes Kind sollte in unserer geburtenschwachen Region willkommen sein. Sterilität ist keine lifestyle-Erkrankung! Die Reproduktionsmedizin ist neben der Geburtshilfe und der Gynäkologie die dritte Säule der Frauenheilkunde und wenn man so will die Grundlage für die beiden anderen. Gespräche, Beratung, Aufklärung - all das wird sehr schlecht vergütet. Dabei haben wir in unserer kleinen Kinderwunschsprechstunde allein in diesem Jahr auf diese Weise rund 250 Schwangerschaften auf den Weg gebracht. Das sind 250 Kinder, die sonst nicht da wären, 250 neue Einwohner von Sachsen-Anhalt.
Medizin ist ein Industriezweig geworden.
Kaltwaßer: Eine ganz fatale Entwicklung. Wir erleben zunehmend, dass sich nur teure Leistungen rechnen und zu Gewinnen führen. Die Medien berichten ständig über Beispiele aus allen Gebieten der Medizin in denen nicht immer nur die sinnvollste Methode angewandt wird. Vertreibt man die Reproduktionsmedizin aus der akademischen Lehre völlig in die privaten Praxen wird die künstliche Befruchtung zur Hauptmethode, einfach weil sie das meiste Geld bringt. Das heißt aber nicht, dass es für jedes Paar die beste Methode ist. Zu uns kommen sehr viele Frauen und Männer, die auch mit viel einfacheren Mitteln schwanger werden können. Wir beraten, behandeln und lehren so, wie man es als Arzt seinem Ethos schuldig ist, nach bestem Wissen und Gewissen. Es kann einfach nicht einen Therapieweg für alles geben. Zufriedene Paare kommen dann auch wieder zur Geburt und so schließt sich der Kreis.
Sie erleben in Ihrem Beruf zahllose schöne Momente und ganz schreckliche.
Kaltwaßer: Das größte Unglück und das größte Glück liegen oft ganz dicht beieinander. Das ist manchmal sehr schwer zu ertragen aber ein Teil der Demut, die man nie verlieren sollte. Die Natur ist unglaublich verschwenderisch insbesondere was das Entstehen menschlichen Lebens betrifft.
Um noch mal auf den Eingang des Gesprächs zu kommen: Wenn’s dann endlich doch geklappt hat - das sind vermutlich auch Geburten, die in Erinnerung bleiben?
Kaltwaßer: Ich habe zwei Frauen begleitet, als sie ihr totes reifes Kind auf die Welt bringen mussten und war nach dieser schrecklichen Erfahrung wieder bei der nächsten Geburt ihrer gesunden Kinder dabei. Diese Momente des Wissens um die manchmal unverdient bitteren Umwege des Lebens sind die Quelle der Freude mit der man so einen schönen Beruf tagtäglich angeht.