Waggonbau Ammendorf Waggonbau Ammendorf: «Jetzt geht's wieder aufwärts»
Halle/MZ. - Es ist Kaffeezeit in der Gaststätte "Zur Warte". Kein einziger Waggonbauer sitzt an diesem frühen Montagnachmittag in der Kneipe, die in Halles südlicher Vorstadt nach dem ehemaligen Wirt, Albert Kohlheim, nur "BBS" (Bertis Bierstube) oder "Werk III" genannt wird. Welches Werk III? Diese Frage ist hier, am Ende der Merseburger Straße, noch nie gestellt worden. Auch nicht, als die Ausfalltrasse direkt vor dem Fenster noch Leninallee hieß. Wer hier sein Bier trinkt oder ein Würzfleisch isst, weiß, dass der größte Industriebetrieb der Saalestadt bis in die achtziger Jahre hinein nur zwei Betriebsteile hatte.
Dass der Schienenfahrzeughersteller, dessen Gelände unmittelbar an den Hinterhof der Gastwirtschaft angrenzt, zwölf Jahre nach Ankunft der Marktwirtschaft zumindest noch mit einem Betriebsteil erhalten bleiben würde, hätte noch vor zwei Tagen niemand der Kneipengäste gedacht. "Es grenzt schon an ein Wunder, was da passiert ist", sagt Joachim Ptascynski. Der gelernte Schmelzer, den es nach Anstellungen bei Kupferhütten in Helbra und Hettstedt selbst ein Jahr lang in den Waggonbau verschlagen hatte, freut sich für die ehemaligen Kollegen. Was den nach Monaten der Arbeitslosigkeit wieder in einer Firma im Saalkreis untergekommenen Familienvater dennoch ärgert: "Als ich Anfang der neunziger Jahre gehen musste, und mit mir 4 000 andere Waggonbauer, hat kein Hahn gekräht." Er gebe sich zwar keinen Illusionen über das damalige Missverhältnis von Personal und Produktivität hin. "Wenn die solidarische Front von Belegschaft, Gewerkschaft und Politik aber so fest gestanden hätte wie in den letzten Wochen, wäre sicher noch mehr Ammendorfern die Entlassung erspart geblieben."
Dieser Ansicht ist auch Frank Renner. Er war früher als Polsterer im Waggonbau. Wie viele der ehemaligen und noch immer im Betrieb angestellten Kollegen wohnt der junge Mann auch in dem Stadtteil, dem der Betrieb seinen Namen verdankt. "Für Ammendorf wäre die Schließung der Todesstoß gewesen", ist sich der heute als Lagerist arbeitende Hallenser sicher. Das einst vom relativen Wohlstand der Werksangehörigen profitierende Viertel sei mit dem personellen Aderlass immer grauer und leerer geworden. "In den umliegenden Supermärkten war der Wochenend-Einkauf früher eine Nahkampf-Übung, heute hat man Glück, wenn man zwischen den Regalen mal jemanden trifft." Und seit Mitte November, als die Hiobsbotschaft von den Schließungsplänen auch außerhalb der Werkstore wie eine Bombe eingeschlagen sei, habe sich die Talfahrt weiter beschleunigt. "Gemüsehändler und Fleischer klagen über weggebrochene Umsätze, viele Händler sind schon gar nicht mehr da." Renner hofft, dass mit dem Sinneswandel in der Bombardier-Chefetage nun endlich wieder Leben in den Stadtteil kommt.
Darin ist sich der Ammendorfer mit Ute Müller einig. Die Wirtin von "Werk III" baut darauf, dass sie schon an diesem Nachmittag ein paar Gläser Bier, vielleicht sogar Sekt, mehr verkaufen kann als zuletzt üblich. Doch die Freude über die Rettung des Waggonbaus ist nicht nur geschäftlicher Natur. Der Schwager der Gastronomin ist einer der etwa verbliebenen 900 Mitarbeiter, die am Morgen Kanzler Gerhard Schröder zugejubelt haben. "Ich bin so erleichtert über die Entwicklung, es ist wirklich unglaublich." Ute Müller strahlt.
Man sieht an diesem stürmischen Montag viele Ammendorfer mit einem breiten Lächeln durch die Straßen des Viertels laufen. Zu ihnen gehört Ingeborg Kohlheim. Die 67-Jährige, die früher selbst hinterm Tresen von "Werk III" gestanden hat, ist sich sicher: "Jetzt geht es wieder aufwärts." Und auch wenn viele Ammendorfer den Arbeitsplätzen hinterher trauern mögen, die schon früher verloren gegangen seien, so habe letztlich doch jeder irgendwie Grund zur Freude. "Einerseits hat fast jeder noch irgendwelche Verwandtschaft im Werk, auf der anderen Seite waren und sind hier doch die meisten Leute stolz darauf, dass Waggons aus Ammendorf in aller Herren Länder unterwegs sind."