Trendforschung Trendforschung: Dieser Hallenser weiß, was zum Trend wird

Halle (Saale) - Niels Holger Wien war viel unterwegs in den vergangenen Wochen. Er war in Istanbul und in Berlin, in der litauischen Hauptstadt Vilnius und in Zürich, zwischendurch zwei Mal in Düsseldorf sowie in Paris. In all diesen Städten hat er Vorträge gehalten und mit Leuten zusammengesessen, die auf der Suche sind. Und zwar auf einer ganz speziellen Suche: auf der Suche nach den Trends der Zukunft.
Wiens Auftraggeber ist das Deutsche Mode-Institut, zudem vertritt er Deutschland als sogenannter Farbbotschafter in einem exklusiven Kreis von Trend-Experten. Eine erstaunliche Karriere, die einen äußerst kurvenreichen Verlauf nahm.
Wien wurde 1966 in Ludwigslust geboren und wuchs in Magdeburg auf. „Eine harte Schule“, sagt er schmunzelnd. 1987 nahm er in Halle ein Modedesign-Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein auf, Mitte der 90er Jahre war er der erste Student aus der ehemaligen DDR, der an der renommierten „Königlichen Akademie für schöne Künste“ im belgischen Antwerpen studierte, jener Schule, die auch die berühmten „Sechs von Antwerpen“ hervorbrachte, etwa den Modedesigner Dries van Noten. Überhaupt eröffnete die Wende ihm nicht weniger als: die Welt.
Wien arbeitete als Stylist, er gestaltete einige Bücher des auch international bekannten halleschen Fotografen Olaf Martens, er schneiderte Theaterkostüme, entwarf Plakate und - na klar - er nähte Klamotten. „Aber das war alles nicht das, was ich machen wollte.“ Mit einem Preisgeld finanzierte er ein mehrmonatiges Praktikum bei einem großen Pariser Trendbüro - und erlebte erneut eine „völlig neue Welt“.
Keine Garantie für Verkaufsschlager
„Trend Analyst“ steht heute auf Wiens Visitenkarte, aber lieber noch bezeichnet er sich als „Informationsvermittler“, als jemand, der Menschen mit Informationen verbindet. Als solcher habe er durchaus eine Filterfunktion. Es ist ja nicht zu bestreiten, dass er mit seinen Vorträgen starken Einfluss hat. Garantien dafür, dass bestimmte Farben Verkaufsschlager werden, gibt es indes nie.
Das Deutsche Mode-Institut (DMI) in Köln ist aus dem bereits 1927 gegründeten Deutschen Herren-Institut für Männermode hervorgegangen. Im Jahr 2003 fusionierten das Damen- und Herrenmodeninstitut zum Deutschen Mode-Institut, dem seither Mitgliedsunternehmen aus allen Branchen angehören, die mit Textil, Mode und dem Thema Lifestyle zu tun haben. Es liefert Trendinformationen nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Textilindustrie.
Alljährlich verleiht das DMI die Auszeichnung „Krawattenmann des Jahres“ - erster Preisträger war 1965 Hans-Joachim Kulenkampff. Weitere prominente Krawattenmänner waren Willy Brandt, Roy Black, Günther Jauch und Ulrich Wickert. (go)
Eine Kollegin von ihm hat die Trend-Analysten als „Archäologen der Zukunft“ bezeichnet, eine Beschreibung, die Niels Holger Wien sehr gut gefällt. So wie der Archäologe aus Bruchstücken, die er findet, eine längst vergangene Welt zusammensetzt, so finden die Trendsucher im Idealfall Bruchstücke von dem, was in der Zukunft sein wird.
Und wo findet man diese Bruchstücke? Na, überall! Unabdingbare Voraussetzung, um sie zu finden, sind freilich vor allem: ein offener Geist und ebenso offene Augen. „Es gibt nichts, was mich nicht interessiert“, sagt der 48-Jährige, dessen rot gefärbte Haare längst so was wie sein Markenzeichen sind. Niels Holger Wien ist Teil einer Bürogemeinschaft an der halleschen Mühlpforte. Die Saalestadt, in der er mit seinem Lebensgefährten wohnt, bleibt der Rückzugsort für den kleinen Mann, der so viel unterwegs ist in der Welt. Neben dem Haus plätschert ein Seitenarm der Saale. Bei der Flut 2013 stand das Gebäude unter Wasser, Wien hat ans Fenster eine rote Markierung geklebt, die zeigt, wie hoch es stand. Die Markierung ist etwa auf Höhe der Schreibtischplatte.
Viele Dinge gingen damals verloren, Gegenstände, die Wien gesammelt hat, Stoffproben und anderes. Aber inzwischen ist Wiens Büro auch schon wieder voll. Es gibt nichts, was ihn nicht interessiert. Das Büro ist Ausdruck dieser Maxime. Auf einem Regal stehen nebeneinander: Dürers Hase als violettfarbene Skulptur, drei leere Limonadenflaschen, ein Gefäß aus neuartigem Porzellan, eine alte Emaille-Kanne; „Emaille ist ein Stoff, der eine regelrechte Renaissance erfährt“, sagt Wien nebenbei. Ein Gespräch mit ihm mäandert fröhlich von einem Thema zum nächsten - es gibt eben nichts, was ihn nicht interessiert.
Die Bücherregale sind vollgestopft mit vorzugsweise großformatigen Bänden. Werke über Maler, Fotografen und Designer, Bücher über Bionik, über Afrika und über Gärten in Frankreich, über Holz und Stein. Außerdem: zahllose Kisten und Kartons mit Musterproben, vor allem Stoffsammlungen. „Es gibt nichts, was mich nicht interessiert.“
Trends können nicht "erfunden" werden
Seine Vorträge vor Vertretern quasi sämtlicher großer Modeunternehmen versteht Wien bestenfalls als Angebote an die Designer. Als Trendanalyst bietet er der Modeindustrie (aber auch anderen Produzenten) Fenster in die Zukunft. Von Allmachtsfantasien ist Wien indes weit entfernt. Oft werde er nach der Trendfarbe für den Sommer gefragt, erzählt er und amüsiert sich über Verschwörungstheorien, die ihn und seinesgleichen als „Farbkartell“ beschreiben, das anderen aufzwingt, was sie schön zu finden haben.
Trends können nicht „erfunden“ werden, meint Wien. Ein Trend kann nur ein Trend werden, wenn er auf eine entsprechende Stimmung trifft. Was aber ist das überhaupt, der Trend - und wie findet man ihn? Es ist jedenfalls mehr, als die Farbe der Saison. Wie auch? Ein Begriff wie „rot“ sei doch als solcher gar nicht fassbar, sagt Niels Holger Wien. Und führe bei jedem Hörer zu anderen Vorstellungen.
Die Suche nach dem Trend von morgen ist ohnehin eine relativ neue Entwicklung. Begonnen hat sie etwa in den 1960er Jahren - und Auslöser dafür war die Massenfertigung von Kleidung. Diese Massenproduktion macht deutlich größere Vorläufe nötig. Inzwischen sind es zwei Jahre. Gedanklich ist Niels Holger Wien also längst im Jahr 2017.
Verpasst er auch mal einen Trend? „Ja, natürlich. Immer wieder.“ Sein Fokus liege vor allem auf Farben und Materialien. Erneut fällt der zentrale Satz: „Es gibt zwar nichts, was mich für meine Recherchen nicht interessiert“, doch dann folgt ein „Aber“: „Aber auch ich kann nicht alles sehen, wissen oder verstehen.“ Im Bereich der Pret-à-porter-Mode, den Konfektionen „von der Stange“, entstünden beim Neu-Kombinieren immer wieder neue, kleine Styling-Trends. Kleine Trends, aus denen sich dann auch wieder große Modetrends entwickeln können. „Das zu überwachen, übersteigt die Wahrnehmungsfähigkeit einer Person.“ Umso wichtiger ist für Wien der ständige Austausch mit anderen.
Trends kommen in Wellen
Trends funktionieren wellenartig - wobei die Welle natürlich unterschiedlich hoch, groß und lang sein kann. Wir leben in einer Zeit der Fragmentierung: Die Gesamtzahl der Wellen hat enorm zugenommen, und über allem schweben noch ein paar große Wellen - die Megatrends. Es gibt immer ganz viele Wellenbewegungen, sagt Wien. „Und es ist sehr spannend, eine neue Welle zu entdecken.“
Die Zahl der Trends ist größer, die Trends selbst sind dagegen oft kurzlebiger. „Früher brachte ein Modelabel zwei Kollektionen im Jahr heraus - eine Kette wie Zara wechselt heute alle drei Wochen das Angebot.“ Da mutet es durchaus ironisch an, dass einer der ganz großen Trends jener nach Stille, nach Ruhe, nach Neutralität ist. Im Bereich der Lebensmittel ist der Trend nicht mehr zu übersehen. „Slow Food“ ist da nur eine Facette. Sein eigenes Bedürfnis nach Ruhe ist auch der Grund dafür, dass Niels Holger Wien nicht in einer der Metropolen lebt, in die er beruflich so oft reist, sondern in Halle.
„Sofortness“ nennt der Trendexperte unsere derzeitige Lebenswirklichkeit: Alles ist immer verfügbar, jeder Wunsch kann sofort erfüllt werden. „Ich denke, wir müssen uns das wieder abgewöhnen“, sagt Wien. „Das können wir uns sonst auf Dauer einfach nicht mehr leisten.“ (mz)