Stasi-Archiv Stasi-Archiv Halle: Frau erkennt sich auf altem DDR-Foto wieder

Halle (Saale) - Eltern erkennen ihre Kinder mit traumwandlerischer Sicherheit. Auch Jahrzehnte später auf alten Fotos. Wie dem, das Elisabeth Reimer im Mai in der MZ sieht: Ein kleiner Junge, kurze Hosen, Hosenträger, neben einer jungen Frau.
Beide wenden dem Fotografen den Rücken zu und schauen auf ein Schloss im Hintergrund. Der Junge, denkt Reimer, „das ist doch der Richard!“ Ihr mittlerweile verstorbener Sohn, damals zwei Jahre alt.
Die Schwarz-Weiß-Aufnahme stammt aus dem Fundus der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle. Wie mehrere hundert andere Bilder ließ sie sich nicht klar zuordnen - bis jetzt. Es fehlten wichtige Informationen:
Wer hat sie wo, wann und warum aufgenommen? Wer und was sind darauf zu sehen? Ohne diese Zuordnungen sind die Bilder wertlos für die Erforschung und Aufarbeitung der regionalen DDR-Geschichte. Seit Mai zeigt die Behörde die Fotos in einer Ausstellung. Einige - darunter die Schloss-Ansicht mit Frau und Kind - sind vorab in der MZ veröffentlicht worden.
Behördenchefin Marit Krätzer und ihr Team haben seither Dutzende Hinweise bekommen. Auch Elisabeth Reimer ruft in der Blücherstraße 2 in Halle-Neustadt an. Sie weiß, wie fast 50 andere Tippgeber: Bei dem Schloss handelt es sich um Schloss Reinhardsbrunn bei Gotha in Thüringen.
Was nur sie weiß: Die Frau und das Kind, das sind ihr Sohn und sie. Was sie ahnt, angesichts der Aufnahme: Dass sie und ihre Familie überwacht worden sind. Das Bild ist ein Observationsfoto. „Mein Mann hätte uns doch nie von hinten fotografiert“, sagt Reimer kopfschüttelnd.
Die Spione der Staatssicherheit haben nicht nun Unmengen an Akten angelegt über die Menschen, die sie bespitzelt haben. Zu den Hinterlassenschaften zählen auch bergeweise Fotos.
Allein in der halleschen Stasi-Unterlagenbehörde lagern 27 000 Positive und 77 000 Negative aus Halle und den 22 Landkreisen im damaligen DDR-Bezirk Halle. Hinzu kommen Tondokumente.
Zum Treffen mit der MZ hat sie ein paar Familienfotos mitgebracht, ihre Stasi-Akte und einen Sack voller Erinnerungen. „Das Bild muss 1967 aufgenommen worden sein“, erzählt sie, „Richard war zwei.“ Die Familie aus Halle-Neustadt, zu der noch ein Vierjähriger gehört, macht damals Urlaub in Tabarz.
Zwei Wochen Ferienheim „Theodor Neubauer“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR. Das nahegelegene Schloss Reinhardsbrunn ist ein Devisenhotel für zahlungskräftige Westgäste. „Das Gelände war aber noch frei zugänglich“, erinnert sich Reimer, „also haben wir uns mal umgeschaut.“ Ein oder zwei Jahre später, beim nächsten Urlaub, habe dann ein Zaun den Weg versperrt.
Foto aus dem Stasi-Archiv in Halle: Hallenserin wurde mehrfach im Urlaub fotografiert
Für Elisabeth Reimer öffnet das Foto aus dem Stasi-Archiv unversehens eine Tür zu einem Teil ihrer Vergangenheit, der ihr bisher unbekannt ist. Krätzer legt ihr noch weitere Fotos vor. Bilder von Stasi-Spitzeln sind darunter, „im Wald, beim Spaziergang, die haben uns überall fotografiert“.
Aber Reimer erkennt auch eigene Urlaubsfotos wieder. „Fotografieren war das große Hobby meines Mannes“, erzählt sie. „Die Filme musste er zum Entwickeln immer weggeben, da hatte die Stasi wohl auch schon ein Auge drauf.“
Bloß: Warum? Warum schrecken die Spitzel selbst davor nicht zurück, Urlaubsfotos zu stehlen? Von einer unauffälligen Familie mit zwei kleinen Kindern, sie im Wohnungsbaukombinat Halle-Neustadt tätig, er im Plattenwerk Halle West?
Elisabeth Reimer will dem jetzt nachgehen. Sie hat sich vorgenommen, weitere Akten zu beantragen bei der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle. Diese arbeitet die Hinterlassenschaften des Geheimdienstes im ehemaligen DDR-Verwaltungsbezirk Halle auf. Die Fragen nagen an Reimer: Wer hat sie bespitzelt? Wie groß war das Ausmaß der Überwachung? Und wie lange ging das so?
In den Stasi-Akten von ihr und ihrem Mann finden sich bisher nicht viele Antworten: Er ist demnach als „politisch nicht tragbar“ aus der Armee entlassen worden. „Weil er seinen Mund aufgemacht und gesagt hat, wenn ihm etwas nicht passt. Ich bin ganz genauso“, sagt Reimer.
Sie erzählt von Westverwandtschaft, ein Onkel ihres Mannes in West-Berlin: „Bei der Armee haben sie ihn mal gefragt, ob er auf seinen Onkel schießen würde, wenn sie sich an der Mauer gegenüber stehen. ,Natürlich nicht‘, hat er gesagt, ,das ist doch mein Onkel.‘“ Das war wohl ein Grund für die Einstufung als politisch unzuverlässig.
Aber sonst? Ein Papier in den Akten verliert sich im Banalen: Die Eheleute, heißt es da, seien „beide sauber und erfüllten einwandfrei die Pflichten der Hausordnung“. Die Kinder seien „sehr gut erzogen“. Ist da noch mehr? Passagenweise sind die Unterlagen geschwärzt oder anonymisiert, um Interessen Dritter zu schützen.
Foto aus Stasi-Archiv in Halle zeigt Urlauberin: Warum die Stasi-Akten oft geschwärzt sind
Behördenchefin Marit Krätzer erklärt, warum das so ist: „Jeder Antragsteller bekommt alles zu sehen, was wir über ihn haben.“ In der Regel enthielten die Stasi-Akten aber auch Informationen über andere Personen. Das könnten Ehepartner, Freunde oder Arbeitskollegen sein. Diese Informationen dürften dem Antragsteller laut Stasi-Unterlagengesetz nicht zugänglich gemacht werden, sagt Krätzer. Daher müssten sie unkenntlich gemacht werden.
Gemerkt haben sie damals nichts von der Überwachung, sagt Elisabeth Reimer: „Wie auch, wir hatten ja Urlaub. Und die Kinder haben uns auf Trab gehalten.“ Seit sie aber das Foto aus Reinhardsbrunn in der MZ entdeckt hat, setzt sie aus der Erinnerung Puzzlestein um Puzzlestein zusammen.
Manches erscheint nun in neuem Licht. Da ist der Urlaub in Benneckenstein im Harz, 1988, zur Silberhochzeit. „Wenn wir spazieren gingen, folgten uns immer Leute in gewissem Abstand. Sie fotografierten wie wir. Wir haben uns nichts dabei gedacht.“ Urlauber knipsen eben. Heute ist sie sich sicher: Das war die Stasi.
Elisabeth Reimer hat lange überlegt, ob sie ihre Geschichte in der MZ erzählen soll. Sie hat der Anfrage schließlich zugestimmt, unter einer Bedingung: Der richtige Name der Familie soll nicht in der Zeitung erscheinen. Reimers wohnen seit mehr als fünf Jahrzehnten in derselben Wohnung im selben Block in Halle-Neustadt, man kennt sich im Viertel. Sie wolle kein Gerede in der Nachbarschaft, sagt Reimer.
Es ist auch so verzwickt genug. Schon länger wissen Reimers, dass ihr älterer Sohn für die Stasi gearbeitet, sogar private Gespräche aus der Familie weitergetragen hat. Kontakt zu ihm haben sie nicht mehr.
Aber was, wenn weitere Akten ergeben, dass der Sohn noch mehr ausspioniert hat? „Möglich“, sagt sie, „aber damit habe ich abgeschlossen. Ohne das Foto aus Reinhardsbrunn wäre das alles nicht noch einmal so hochgekommen.“ Aber jetzt wolle sie es wissen. (mz)