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1992 veröffentlicht Stasi: 4.500 Namen von Mitarbeitern in Halle veröffentlicht

Von Steffen Könau 11.07.2019, 07:00
Im Reformhaus herrscht im Juli vor 25 Jahren ein Andrang, der Heidi Bohley und Frank Eigenfeld (in der Tür) überrascht.
Im Reformhaus herrscht im Juli vor 25 Jahren ein Andrang, der Heidi Bohley und Frank Eigenfeld (in der Tür) überrascht. Günter Bauer

Halle (Saale) - Schon am Vormittag ist kein Vorankommen mehr im Treppenhaus des Reformhauses an der Klausbrücke in Halle. Menschenmassen stehen an diesem Montagmorgen dicht gedrängt im Gang vor Zimmer 405. Es ist stickig, ein Gefühl aus Spannung und Furcht liegt in der Luft.

Junge und ältere, neugierige und ängstliche Frauen und Männer stehen schweigend, ohne sich anzuschauen. Kaum jemand spricht. Für viele hier hat der heiße Juli dieses Jahres 1992 mit einem Schrecken begonnen.

Ein Schrecken aus der Vergangenheit, längst verdrängt und vergessen, für manchen seit zwei, drei Jahren, für andere seit sieben, acht oder einem ganzen Jahrzehnt. Doch seit Tagen schon machen in der Stadt Gerüchte die Runde, dass Unbekannte eine Liste mit Namen von ehemaligen inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit an Medienhäuser, Parteien und staatliche Institutionen verschickt haben.

Neues Forum veröffentlicht Stasi-Liste in Halle

Zeitungen gehen Fällen mit prominenten Namen nach. Zu Preisen von bis zu 500 Mark werden komplette Kopien unter der Hand verkauft.

Bis zu diesem Montag, an dem die Bürgerrechtler des Neuen Forum darangehen, die sogenannte Stasi-Liste öffentlich auszulegen. Alle sollen alles wissen. Es soll nicht wieder die Zwei-Klassen-Gesellschaft der untergegangenen Arbeiter- und Bauernrepublik geben, in der jeder nur das wissen durfte, was für die Erfüllung seiner Aufgabe notwendig war.

Vorausgegangen ist am Abend zuvor eine harte Diskussion in der Szenekneipe „Strieses Biertunnel“. Die Liste, die auch im Postfach der Stadtratsfraktion des Neuen Forum (NF) gelegen hatte, geht von Hand zu Hand. Jeder sucht nach Bekannten, Freunden und vor allem auch nach den Namen derjenigen, von denen er immer schon vermutet hatte, dass sie dabei gewesen sein könnten. Manche waren es. Manche nicht.

IM-Listen veröffentlicht: Öffentliches Interesse gegen Persönlichkeitsrecht

„Wir haben dann hart diskutiert, was wir damit machen“, erinnert sich Heidi Bohley, selbst über Jahre von der Stasi drangsaliert. Das Persönlichkeitsrecht der Frauen und Männer, deren Namen auf der Liste stehen, wiegt schwer.

Doch noch schwerer, glauben die Bürgerrechtler, wiegt das öffentliche Interesse daran, zu erfahren, wer das Bodenpersonal der Stasi war, wer Augen und Ohren im Betrieb, bei der Gartenparty oder in der Elternversammlung aufhielt.

Das Neue Forum beschließt, die 112 Seiten mit den 4.500 Namen öffentlich auszulegen. „Ich selbst bin zögerlich gewesen“, beschreibt Heidi Bohley, die zu DDR-Zeiten durch ihre Mitarbeit bei „Frauen für den Frieden“ ins Visier der Staatssicherheit rückte und sich mit dem Verein Zeit-Geschichten bis heute der Aufarbeitung dieser bleiernen Jahre widmet. „Aber als es beschlossen war, stand ich dahinter.“

Der Ansturm ist riesig, viel größer sogar, als Heidi Bohley, Sabine Leloup, Frank Eigenfeld und ihre Mitstreiter gedacht haben. Die DDR ist erst seit zwei Jahren Geschichte, unzählige Wunden sind noch offen. Viele Menschen wollen wissen, wer sie bespitzelt, wer sie verraten hat. Andere aber, die irgendwann vor Jahren eine Unterschrift geleistet haben, fürchten jetzt um ihren Ruf, ihren Job und ihre Zukunft.

Wollten Stasi-Leute mit Listen Unruhe in der Bevölkerung stiften?

Denn Halle ist die erste Stadt, in der die geheime Spitzelarmee der Staatssicherheit ans Licht gezerrt wird. Was wird geschehen? Werden sich Opfer rächen? Täter den Freitod wählen? Werden Gerichte einschreiten? Die Staatsanwaltschaft nach den Urhebern suchen?

Die sind im Grunde bis heute unbekannt. „Die ganze Gruppe hat sich damals entschieden, anonym zu bleiben, weil es nicht um sie, sondern um die Täter gehen sollte“, erklärt Heidi Bohley, die weiß, wer die 30 Briefe mit der Liste verschickt hat. Aktuell wieder kursierende Gerüchte, dass Stasi-Leute das Material lieferten, um Unruhe in der Bevölkerung zu stiften, seien Unsinn.

„Natürlich kam das aus Kreisen von Bürgerrechtlern“, sagt Bohley, die selbst an der vorbereitenden Erstellung der Liste nicht beteiligt war. „Ich hätte das auch abgelehnt, weil man nicht wissen konnte, was daraus wird“, sagt sie, „aber heute denke ich, es war eine hervorragende Aktion.“

Generalstabsmäßig vorbereitet, denn die 112 Seiten aus den braunen Packpapierumschlägen existieren im Reich der Staatssicherheit so überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Die Datenbanken mit Klarnamen, Personenkennzahlen, Geburtsdaten, Decknamen und Einsatzgebieten werden in Mielkes Ministerium streng abgeschottet betrieben. Auch die Hauptamtlichen sollen möglichst wenig wissen, um die sogenannte Konspiration nicht zu gefährden und einen IM vielleicht zufällig auffliegen zu lassen.

5.000 IM-Einzelakten wurden akribisch durchforstet

Das geschieht hier nun akribisch. „Die Listen wurden in monatelanger Kleinarbeit aus mehr als 5.000 IM-Einzelakten zusammengestellt“, bestätigt später ein Bürgerrechtler, der auf Hilfe durch Mitarbeiter der Gauck-Behörde verweist.

„Die finden nicht immer gut, was die Behörde tut - und dann tun sie, was sie meinen, tun zu müssen“, sagt der Mann, der bis heute nicht näher in Einzelheiten gehen will. „Das alles ist so lange her, ich will dazu gar nichts mehr sagen.“ Aber zur Erstellung und Veröffentlichung der Liste stehe er. „Das halte ich immer noch für richtig.“

Nach dem Tag der Wahrheit ist nichts mehr wie zuvor. Und doch alles genauso. Der Damm ist gebrochen, plötzlich kann jeder Bescheid wissen. Der Handwerker, der Händler, der Galerist, die Café-Betreiberin, der Kollege, der Freund. IM Hans-Joachim, IM Gerd Seifert.

Halle reagiert nicht mit Mord und Totschlag, sondern mit intensiven Diskussionen

„Wir hatten nur zwei Exemplare in losen Blättern“, erinnert sich Heidi Bohley, „aber die Leute haben gewartet, ohne zu murren, gelernte DDR-Bürger eben.“ DDR-Bürger, die die Kritiker der Aktion Lügen strafen. Die prophezeiten Fälle von Selbstjustiz bleiben ebenso aus wie Selbstmorde und Racheakte.

Halle reagiert nicht mit Mord und Totschlag, sondern mit intensiven Diskussionen: Was bedeutet es, auf der Liste zu stehen? Ist wirklich jeder, dessen Name aufgeführt wird, schuldig geworden?

Die einen sehen das Klima der Aufarbeitung durch die Liste belastet. „Schuldige und Unschuldige durch den Zufall des Alphabets zusammengerückt“, heißt es. Andere fühlen sich an den Pranger gestellt.

Oder sie atmen gar auf, weil sie nun wissen, wer sie nicht bespitzelt hat. Peter Romanowski, einer der wenigen Stasi-Offiziere, die öffentlich Stellung nehmen, warnt vor Pauschalurteilen. „Alle IM zu verdammen, ist genauso blödsinnig, wie alle reinwaschen zu wollen“, sagt der letzte Stasi-Chef von Halle.

Es habe unter den Inoffiziellen Leute gegeben, „die waren sogar ihren Führungsoffizieren widerlich“. Aber andere hätten mitgemacht, „weil sie dachten, wenn an diesem Staat noch jemand was ändern kann, dann die Staatssicherheit.“

Entlassungen in Halle nach Veröffentlichung der Stasi-Namen

Das in der Einheitseuphorie an den Rand gerutschte Thema ist damals im Sommer auf einmal wieder präsent. Die Stadtverwaltung, die 88 ihrer Mitarbeiter auf der Liste gefunden hat, spricht Entlassungen aus.

Auch die Mitteldeutsche Zeitung reagiert, ebenso Landesbehörden und Einrichtungen des Bundes. Betroffene wehren sich aber auch, mit Einstweiligen Verfügungen, die auf die Auslegung der Listen durch das Neue Forum zielen.

„30 Leute haben uns gezwungen, ihre Namen zu schwärzen“, rechnet Heidi Bohley vor. Bei allen 30 zeigt die Akteneinsicht in der Gauck-Behörde später, dass sie wirklich für die Staatssicherheit gespitzelt hatten, teilweise sogar überaus engagiert. „Da waren Männer dabei, die haben Mädchen ins Interhotel abgeschleppt, um sie auszuhorchen - und den Rotwein haben sie sich vom MfS bezahlen lassen.“

Mit „bemerkenswerter Dreistigkeit“, so Bohley, hätten diese Inoffiziellen Mitarbeiter trotzdem Eidesstattliche Versicherungen abgegeben, in denen sie beteuerten, niemals für das MfS gearbeitet zu haben. „Und die waren die Grundlage dafür, dass wir vor Gericht in den ersten Instanzen verloren haben.“

Bundesverfassungsgericht hat 2000 entschieden: Auslegung der Listen war rechtmäßig

Das Neue Forum gibt trotzdem nicht auf. Fast acht Jahre kämpft die Bürgerbewegung sich durch die Instanzen. Landgericht, Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof halten an der Auffassung fest, dass Betroffene ihre Namen schwärzen lassen dürfen, selbst wenn sie IM waren.

Erst das Bundesverfassungsgericht entscheidet schließlich im Jahr 2000 letztinstanzlich, dass die Auslegung der Listen doch rechtmäßig war. Untergeordnete Gerichte hätten die „Reichweite der im Grundgesetz geschützten Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet“.

Bei der Diskussion um das MfS handele es sich um eine „die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage“, weil das MfS „zentraler Bestandteil des totalitären Machtapparats der DDR“ gewesen sei. Die Liste habe so zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beitragen können, heißt es im Urteil, das nach Ansicht von NF-Anwalt Peter Raue gleichwohl unbefriedigend ausfiel.

„Wir haben gewonnen - im Gefäß eines verlorenen Prozesses“, sagt der Berliner Anwalt. Weil das Neue Forum bereits auf die weitere Auslegung verzichtet habe, sehen die Verfassungsrichter keine aktuelle Relevanz für ihre Entscheidung.

Für Heidi Bohley bis heute ein Stachel, der ein bisschen sticht. Das Neue Forum war im Recht und bekam es vom Rechtsstaat erst, als es nicht mehr gebraucht wurde. „Die Leute dagegen, die uns gezwungen haben, ihre Namen zu schwärzen, waren alle aktive IM.“ Und obwohl sie damit falsche Eidesstattliche Versicherungen abgegeben hatten, passierte ihnen nichts. „Keiner wurde angeklagt, keiner verurteilt“, sagt Heidi Bohley.

IM-Liste von Halle: Geheimnisse, die keine blieben

In einem Vierteljahrhundert Beschäftigung mit der Stasi-Geschichte blieb die IM-Liste von Halle einmalig: In keiner anderen Stadt wurden bis heute so viele Namen von MfS-Zuträgern bekannt. Doch Listen aus dem Mielke-Erbe tauchten immer wieder auf.

So veröffentlichte eine Zeitung alle in der Gehaltsabteilung des MfS Ende der 80er Jahre genannten Namen von Hauptamtlichen, eine andere listete penibel konspirative Wohnungen auf, in denen sich IM und Offiziere trafen. Immer gab es Gerichtsverfahren um die Veröffentlichung und sogar Netzsperren, lange war die Offiziersliste problemlos im Internet zu finden. (mz)