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Die traurige Geschichte des Philipp Wagner (22) Schwere Depressionen trieben BSV-Kicker in den Tod

Aktualisiert: 17.4.2021, 10:10

Philipp Wagner liebte das Reisen. Die Welt sehen, neue Kulturen kennenlernen, „das hat ihm sehr gefallen“, erzählt seine Freundin Lena Seifert. Gemeinsam war das Paar in Brasilien, den USA, Portugal. „Er wollte dort richtig in das Leben der Menschen eintauchen, nicht nur Tourist sein.“

Seine zweite große Leidenschaft, der Fußball, hat ihn früh auch weit gebracht. Als Junioren-Kicker flog er mit dem Nachwuchs von Bundesligist Borussia Dortmund zu Turnieren in der Karibik, in Südamerika oder auch in Asien. Für die ganz große Karriere reichte es zwar nicht. Beim BSV?Ammendorf in der Verbandsliga spielte der 22-Jährige aber bis zuletzt ein wichtige Rolle.

Es gab ohnehin auch anderes. Je mehr die 23-jährige Freundin von Philipp Wagner erzählt, desto klarer ergibt sich das Bild eines jungen Manns, der viele Talente und Interessen hatte. Auch für Mode konnte sich Wagner begeistern. „Er hat sich gern in Szene gesetzt“, erzählt Seifert. Und kam auch gut an, bei Instagram folgten ihm zuletzt 10.000 Menschen.

Umso unfassbarer ist, was am 1. April Schreckliches geschah: Philipp Wagner setzte seinem Leben ein Ende. „Das war er aber nicht selbst, sondern zu 100 Prozent die Krankheit“, sagt seine Freundin. „Bei klarem Verstand hätte er das niemals gemacht.“ Was bis zuletzt kaum jemand wusste: Wagner litt an starken Depressionen.

Tod von Philipp Wagner: Freundin Lena will seine Geschichte erzählen

Am Freitag wurde Philipp Wagner daheim in Hamm (Westfalen) beerdigt. Der engste Familien- und Freundeskreis - in Trauer vereint und immer noch beim Versuch, die Geschehnisse zu verarbeiten, zu begreifen.

Lena Seifert hat sich, auch im Namen der Familie, in der Zeit der Trauer an die MZ gewandt. Sie wollen, dass die Öffentlichkeit von Philipp Wagners Leben, aber auch seiner Krankheit Depression erfährt, die noch immer tabuisiert und missverstanden wird. Inspiriert vom Schicksal von Torhüter Robert Enke, einem tragischen Vorbild aus der Welt des Fußballs.

Ein Beispiel hilft: Robert Enke ist eines der prominentesten Opfer der Krankheit in Deutschland. Sein Suizid 2009 erschütterte die Öffentlichkeit, auch, weil der Nationaltorhüter von Hannover 96 die Erkrankung aus Angst um seine Karriere geheim gehalten hatte.

„Dieses Gefühl, etwas zu haben, was man nicht sagen soll, macht die Erkrankung nur noch schwerer“, sagt der Mediziner und Depressionsforscher Florian Holsboer in einem Film, den der NDR zu Enkes zehntem Todestag 2019 produziert hat. Deshalb sei ein offener Umgang der Gesellschaft mit dem Thema wichtig. „Depression ist eine Erkrankung, die behandelt werden muss, keine Charakterschwäche, die durch Zusammenreißen überwunden werden kann.“

Genau dieses Verständnis zu schaffen, dafür setzen sich nun auch die Angehörigen von Philipp Wagner ein. „Fußballverrückt“, so beschreibt Lena Seifert die Wagners und erzählt, dass Philipp und sein kleiner Bruder Robert Enke sogar einmal getroffen hätten. „Philipp hat sich deshalb intensiv mit seinem Schicksal beschäftigt. Wir haben uns auch Interviews mit Teresa Enke angesehen.“ Die Frau des verstorbenen Profis vermittelt über die „Robert-Enke-Stiftung“ Halt bei ähnlichen Schicksalen. Deshalb wendete sich Lena Seifert an die Stiftung und erhielt Antwort von Teresa Enke. „Eine richtig schöne Nachricht“, sagt sie. „Sie hat uns bestärkt, Philipps Geschichte zu erzählen.“

Philipp Wagner kam zum Jura-Studium nach Halle und zum BSV Ammendorf

Philipp Wagner schaffte es von Rot-Weiß Ahlen in den Nachwuchs des BVB, spielte dort im Mittelfeld bis zur B-Jugend, war Deutscher Vizemeister. „Das hat viel Zeitaufwand erfordert, es gab auch viel Druck“, erzählt Seifert, die mit Philipp Wagner seit Schulzeiten zusammen war. „Doch Philipp hatte Talent und Ehrgeiz.“

Nach einer schweren Knöchelverletzung sortierte der BVB den Nachwuchsfußballer aus. „Das hat er aber gut verkraftet, weil er ohnehin nicht alles auf die Karte Fußball setzten wollte“, sagt Seifert. „Er wollte gern studieren. In seinem Jahrgang hat er den besten Abiturabschluss gemacht.“

Nach der Schule fokussierte er sich auf sein Studium. Er zog von Hamm nach Halle, begann mit Jura. „Das wollte er unbedingt, weg aus der Heimat, sein eigenes Leben führen“, sagt Seifert. Fußball wollte Wagner trotzdem weiter spielen. Er schaute sich einige Vereine in Halle an und landete 2019 schließlich beim BSV Ammendorf. „Da hatte er eine super Zeit, hat sich richtig wertgeschätzt gefühlt als Fußballer und Mensch“, sagt Seifert.

BSV-Trainer Christian Kamalla erinnert sich: „Philipp hatte immer ein Lächeln im Gesicht“

28 Spiele machte er in drei Spielzeiten, die letzten zwei durch Corona vorzeitig beendet, für das Spitzenteam der Verbandsliga. „Fußballerisch war er über jeden Zweifel erhaben“, sagt BSV-Trainer Christian Kamalla. „Aber er wurde von allen auch wegen seiner Art geschätzt. Philipp hatte immer ein Lächeln im Gesicht.“

Was löste aber die Krankheit aus? Im Rückblick bleibt die Erkenntnis: Der Druck beim Studium, den sich Philipp Wagner auferlegte. „Im Oktober 2020 hat es angefangen“, erzählt Lena Seifert. „Da hat er gesagt, dass er nicht mehr weiter Jura studieren will, aber auch nicht weiß, was er sonst machen soll. In diesen Gedanken hat er sich reingesteigert.“

Durch die Zukunftsängste brach die Depression bei Philipp Wagner aus. „Er hat immer mehr an sich gezweifelt, dachte plötzlich, dass er Übergewicht hat“, beschreibt Seifert die Wesensveränderung ihres Freundes. „Irgendwann hatte er überhaupt keine Selbstliebe mehr, hat gesagt, dass es für ihn keine Zukunft gebe.“

Depressionen: Auch psychiatrische Notfallklinik kann Philipp Wagner nicht mehr helfen

Anfang des Jahres war klar: Philipp Wagner benötigt Hilfe. Die ist aber nicht leicht zu finden. „Die Wartezeiten für ambulante Psychotherapien sind extrem lang, von einem halben Jahr bis zwei Jahren. Philipp kam nur auf Wartelisten“, erzählt Seifert. Ein großes Problem, wie auch Psychotherapeutische Berufsverbände betonen. Sie fordern deshalb von der Politik, dass der Therapiebedarf besser ermittelt wird.

Schneller zugängliche psychologische Beratungsangebote, wie die der Universität Halle, halfen Philipp Wagner nicht weiter. Antidepressiva, die ihm sein Hausarzt verschreibt, wirkten zunächst nicht, verschlechterten sogar seinen Zustand. Irgendwann nahm er kaum noch an Gesprächen teil.

Als letzten Ausweg beschloss Philipp Wagner gemeinsam mit Freundin und Familie im März in seiner Heimat Hamm in eine psychiatrische Notfallklinik zu gehen. Erfolglos. „Philipp hat gesagt, dass er nicht mit der Krankheit leben, sondern gesund werden will“, erzählt Seifert. „In der Klinik hat er aber gesehen, dass Menschen zum zweiten oder sogar dritten Mal wegen einer Depression behandelt werden mussten.“ Das entmutigte ihn. Zudem fühlte er sich von den Ärzten nicht immer gut verstanden. Nach einer Woche in der Klinik entließ sich Philipp Wagner selbst. Einen Tag später nahm er sich das Leben.

Was bleibt ist Trauer, aber auch Erinnerungen. Und der Wunsch der Angehörigen, dass Menschen mit Depressionen ihre Krankheit nicht verstecken müssen. (mz/Fabian Wölfling)

Anmerkung der Redaktion zur Suizid-Berichterstattung

Um den Wunsch von Philipp Wagners Freundin und seiner Familie zu entsprechen, die Öffentlichkeit für die Krankheit Depression zu sensibilisieren, haben wir uns entschieden, in diesem Fall ausnahmsweise über das Thema Suizid zu berichten.

Leider kann es passieren, dass depressiv erkrankte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehende die Telefonseelsorge oder andere Anlaufstellen. Dort erhalten Sie professionelle Hilfe.

Die wichtigsten Anlaufstellen:

  • Kostenlose Hotline der Telefonseelsorge: rund um die Uhr; 0800-1110111 oder 0800-1110222
  • Beratungshotline der Robert-Enke-Stiftung: Mo bis Fr von 9 bis 12?Uhr und von 13 bis 16 Uhr; 0241-8036777

Die Angehörigen von Philipp Wagner rufen aus Anlass seines Todes auch zu Spenden für die Robert-Enke-Stiftung auf. „Philipp hätte das so gewollt“, sagt Freundin Lena Seifert. Spenden an die Robert-Enke-Stiftung mit dem Vermerk „Philipp Benedikt Wagner“ an: IBAN: DE31 2515 1270 0000 1477 51