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Rudolf Schlichters Erotik Rudolf Schlichters Erotik: Hallescher Kunstverein Talstraße zeigt "Eros und Apokalypse"

Von Andreas Montag 29.04.2016, 06:06
Rudolf Schlichter: „Margot“, Öl auf Leinwand, 1924, Stiftung Stadtmuseum Berlin
Rudolf Schlichter: „Margot“, Öl auf Leinwand, 1924, Stiftung Stadtmuseum Berlin Michael Setzpfandt

Halle (Saale) - Wenn diese Ausstellung kein „Hingucker“ wird, dürften Zweifel am Kunstinteresse in Halle und der Region angemeldet werden. Aber so weit wird es wahrscheinlich nicht kommen: Die exquisit komponierte, liebevoll gehängte Schau mit Werken von Rudolf Schlichter, die am Donnerstagabend im halleschen Kunstverein Talstraße eröffnet wurde, trägt den Titel „Eros und Apokalypse“ - und löst das Aufsehen erregende Versprechen mehr als ein.

Rudolf Schlichter - ein faszinierender und widersprüchlicher Künstler

Wer aber war Rudolf Schlichter? Die Frage mag sich der eine oder andere stellen, auch wenn er den Namen schon einmal gehört hat. Das ist durchaus kein Zeichen von Ignoranz oder Borniertheit. „Als Künstlerpersönlichkeit ist er ... der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt“, schreibt die Kunsthistorikerin und Schlichter-Kennerin Sigrid Lange, die an einem Werkverzeichnis des Malers arbeitet.

Schlichter (1890-1955) ist zwar einer der faszinierendsten, auch widersprüchlichsten Künstler des vergangenen Jahrhunderts gewesen - aber er stand und steht, wie andere Zeitgenossen, stets (und durchaus unverdient) im Schatten von George Grosz und Otto Dix, seinen berühmteren Brüdern im Geiste der Neuen Sachlichkeit.

Sieht man dann aber die Gemälde, darunter die großartigen Porträts, erkennt man viele von ihnen natürlich sofort. Zum Beispiel das 1924 gemalte Bildnis der „Margot“, einer Prostituierten, die zu den Lieblingsmodellen des in Calw (Baden-Württemberg) geborenen Malers zählte. Nur denkt man eben nicht zuerst an Schlichter. Einige seiner Werke sind berühmter als er selbst, wie Sigrid Lange und Matthias von der Bank in ihrem Vorwort zum Katalog schreiben, der übergreifend für eine in Koblenz gezeigte Schlichter-Schau - und für die jetzt in Halle zu sehende entstanden ist. Letztere ist die erste Werkschau des Künstlers in Mitteldeutschland überhaupt, melden Matthias Rataiczyk und Christin Müller-Wenzel aus der Talstraße.

Erotik und Sexualität

Was das Missverhältnis von Wiedererkennen und Zuordnung betrifft, verhält es sich bei den erotischen Blättern Schlichters ähnlich wie bei seinen Gemälden. Den grafischen Arbeiten kann man indes die Besessenheit des Künstlers nicht allein von der Kunst, sondern eben auch von der Sexualität direkt ablesen. Vielleicht sollten Eltern ihren Kindern vor dem Ausstellungsbesuch ein paar erklärende Worte auf den Weg geben - zu Hause lassen muss man sie wegen dieser Bilder jedenfalls nicht. Denn hier handelt es sich, bei aller Deftigkeit der gezeigten Liebesszenen, zweifelsfrei um Kunst, während das Erotische heute dank der Pornoindustrie überwiegend säkularisiert und zum allzeit medial verfügbaren, aber dadurch eigentlich auch reizlosen Gemeingut geworden ist.

Schlichter und seine Dämonen - das ist ein abendfüllendes Thema. Schon früh, als junger Mann, sah er sich mit sexuellen Fantasien und Sehnsüchten konfrontiert, fühlte sich zu Frauen und zum Fetischismus hingezogen. In welche Not ein Mann in katholisch geprägten Landen, obendrein noch während der Kaiserzeit, geraten konnte, lässt sich unschwer erahnen. Und einmal hat Schlichter sogar für ein paar Wochen im Gefängnis gesessen deshalb. Der Psychoanalytiker Otto Gross schrieb zu jener Zeit seinen noch heute spannenden Aufsatz „Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe“.

Der Künstler hat das Beste daraus gemacht: Kunst. Man wird durch diese Ausstellung wie durch einen lichten Korridor in die Kunst- und Zeitgeschichte gehen, Bezüge und Assoziationen werden eröffnet. Und Schönheit ist zu bewundern, selbst in einem Schreckensbild wie „Der Gefangene“ aus dem jahr 1939, das einen Mann umstellt von fratzenhaften Dämonen und Totenschädeln zeigt. Hier hat der Künstler sich selbst gesehen - als Opfer einer allzu engen, oft engstirnigen Welt und vielleicht auch die Schrecken des bevorstehenden Weltkrieges vorausahnend.

Komplettiert durch eine Kabinettschau zur 1918 gegründeten Novembergruppe (mit halleschen Bezügen) ist ein Ausstellungscoup gelungen. Und eine Entdeckung.

Kunstverein Talstraße, Halle, Talstraße 23, bis zum 24. Juli, Mi-Fr 14-19, Sa und So 14-18 Uhr; Eintritt: 5, erm. 3 Euro (mz)

Rudolf Schlichter: „Liebesvariationen“, Radierung, 1922, Privatbesitz;© Viola Roehr-v.-Alvensleben, München
Rudolf Schlichter: „Liebesvariationen“, Radierung, 1922, Privatbesitz;© Viola Roehr-v.-Alvensleben, München
Kunstverein Talstrasse Halle