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Offener Brief Offener Brief: Wissenschaftler wehren sich gegen Verurteilung von Abderhalden

Von Steffen Könau 16.12.2013, 12:10
Der Stadtrat soll nun entscheiden, ob hier bald ein neues Straßenschild hängt.
Der Stadtrat soll nun entscheiden, ob hier bald ein neues Straßenschild hängt. THomas Meinicke Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Einen Tag nach dem überraschenden Vorpreschen von Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) zur Umbenennung der derzeitigen Emil-Abderhalden- in Anton-Wilhelm-Amo-Straße haben sich mehr als 30 Wissenschaftler, Künstler, Historiker und Bürgerrechtler mit einem offenen Brief gegen eine Verurteilung des früheren Leopoldina-Chefs Abderhalden als Rassisten, Eugeniker und Mitglied des Establishments des Dritten Reiches gewandt.

Eine Initiative von fünf Uni-Professoren hatte den gebürtigen Schweizer, der bis 1945 an der Universität in Halle wirkte, Ende Oktober so bezeichnet. Rund 40 Wissenschaftler hatten damals einen Aufruf unterschrieben, die am künftigen Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Martin-Luther-Universität vorbeiführende Abderhalden-Straße umzubenennen, um Schaden vom Wissenschaftsstandort Halle abzuwenden.

12. August 2010: Der Kulturausschuss vertagt eine Entscheidung zur Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße. Zuerst soll ein Gutachten der Leopoldina kommen.

22. Oktober 2013: 43 Professoren der Martin-Luther-Universität fordern die Umbenennung der Straße wegen Abderhaldens Rolle im Nationalsozialismus.

23. Oktober 2013: Oberbürgermeister Bernd Wiegand spricht sich für eine Umbenennung aus.

12. November 2013: Die Professoren-Initiative macht vier Namensvorschläge - darunter auch Anton Wilhelm Amo.

2. Dezember 2013: Abderhaldens Tochter meldet sich zu Wort. Sie wirft den Umbenennungs-Befürwortern vor, das Andenken ihres Vaters zu beschädigen.

4. Dezember 2013: Der Kulturausschuss vertagt die Entscheidung, bis das Gutachten der Leopoldina im Sommer 2014 vorliegt.

Namhafte Unterstützer

In dem jetzt vom Verein „Zeit-Geschichten“ veröffentlichen „Aufruf an die Unterzeichner zum Überdenken ihrer Unterschrift“ argumentieren namhafte Unterstützer wie der Historiker Udo Grashoff, der Biochemiker Peter Bohley, der frühere Burg-Rektor Ludwig Ehrler, die Künstler Wasja und Moritz Götze, die Bürgerrechtler Heidi Bohley, Katrin und Frank Eigenfeld und der Holocaust-Überlebende Max Schwab, früher langjähriger Professor an der MLU, dass der ursprüngliche Appell für eine Umbenennung „auf unzureichenden und zum Teil falschen Informationen“ beruhe.

„Viele Behauptungen, die in der Erklärung aufgestellt wurden, sind grob vereinfachend oder sogar unzutreffend“, heißt es. So sei Abderhalden zwar ein Anhänger der eugenischen Forschung, aber eben kein Verfechter der Rassentheorie gewesen. Auch habe er keineswegs zum NS-Establishment gehört.

Das zeige sich auch an der Art, wie der weltweit bekannte Biochemiker als Leopoldina-Chef die vom Nazi-Regime verlangten Ausschlüsse jüdischer Mitglieder der Leopoldina gehandhabt habe. Nach neuen Forschungen des Wissenschaftshistorikers Wieland Berg, die in der „Acta Historica Leopoldina“ veröffentlich werden sollen, habe Abderhalden die Streichung im Gegensatz zur Verfahrensweise allen anderen deutschen Akademien so vorgenommen, dass weder die Öffentlichkeit noch die Betroffenen etwas davon erfuhren. Damit habe der Leopoldina-Präsident beabsichtigt, die Streichungen jederzeit revidieren zu können. Das habe er auch getan, und zwar bereits am 9. Mai 1945.

Zerrbild Abderhaldens

Insgesamt entwerfe der Appell der professoralen Initiative „ein negatives Zerrbild Abderhaldens, das seine wissenschaftlichen und sozialpolitischen Verdienste nicht angemessen berücksichtigt“. Wenn das neue Geistes- und Sozialwissenschaftliche Zentrum der Martin-Luther-Universität „ein Ort des Nachdenkens und des Bemühens um differenzierte Einsichten“ werden solle, dürfe es nicht mit dem Geburtsfehler einer Entscheidung starten, die ohne Berücksichtigung wissenschaftlich recherchierten Wissens gefällt worden sei.

Um Schaden von der Universität abzuwenden, fordere man alle Unterzeichner des Appells der „Professoralen Initiative“ auf, „sich erneut und im Detail zu informieren, ihre Unterschrift zu überdenken und sie möglichst bald zurückzuziehen“.