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Unruhe in Idylle Halle-Nietleben Nietleben ist eine Idylle am Stadtrand von Halle. Aber jetzt sollen Flüchtlinge kommen: 16 Kinder und Jugendliche. Und plötzlich geht die Angst um.

Von Julius Lukas 12.04.2016, 14:46
Hier sollen die Kinder und Jugendlichen untergebracht werden.
Hier sollen die Kinder und Jugendlichen untergebracht werden. Günter Bauer

Halle (Saale) - Es ist still auf der Hauptstraße, die durch Halle-Nietleben führt. An einem Montagmittag trifft man hier kaum jemanden. Nur ab und an braust ein Auto durch die Ruhe. Einfamilienhäuser bestimmen das Bild. Zwei Arbeiter schippen Kies vor eine Einfahrt. Ein alter Mann gießt seinen Vorgarten - sonnengelbe Osterglocken und Tulpen in allen Farben. Davor ein leuchtender Forsythie-Strauch. Nietleben ist ein Stadtteil von Halle. Doch würden nicht hinter manchen Spitzdächern die Hochhäuser der nahe gelegenen Plattenbausiedlung Halle-Neustadt hervorblitzen, man würde denken, man ist in einem Dorf.

Leben im "Stadtdorf"

Den Menschen hier ist diese Ruhe, diese Idylle am Südrand der Heide wichtig. Für viele ist sie sicher auch der Grund, warum sie in dem Stadtdorf leben. Rund 2 600 Einwohner hat Nietleben. Ein Viertel davon sind im Rentenalter, gut 15 Prozent minderjährig.

Arbeitslosigkeit gibt es hier fast nicht. Ab 1. Mai sollen nun 16 neue Einwohner dazu kommen. Und die erregen schon jetzt die Gemüter so mancher Nietlebener. Bei einer Bürgerversammlung am vergangenen Donnerstag pöbelten und schimpften einige Einwohner gegen den Zuzug. Der Tenor: die sollen bloß wegbleiben.

Nietleben richtet sogenannte Clearingstelle ein

Die, das sind 16 Kinder- und Jugendliche. Flüchtlinge, die ohne ihre Eltern nach Deutschland und dann nach Halle gekommen sind. Zum Teil traumatisiert aufgrund von Flucht- und Kriegserfahrung. Für sie soll in Nietleben eine sogenannte Clearingstelle eingerichtet werden, eine Art betreutes Wohnen. Sozialarbeiter und Erzieher kümmern sich dort um die Jugendlichen. Auf zwei Flüchtlinge kommt ein Betreuer.

Der Ort, an dem die Minderjährigen untergebracht werden sollen, liegt in einer kleinen, verwinkelten Sackgasse. Sie zweigt unweit der Dorfkirche von der Hauptstraße ab. Von einem eingezäunten Hof gackern Hühner. Ansonsten herrscht Nietlebener Ruhe. Um das Wort „Beschaulichkeit“ zu bebildern, könnte man problemlos ein Foto dieses Straßenzugs ins Lexikon kleben.

Vorher Landesrettungsschule des Deutschen Roten Kreuzes

In der Sackgasse liegt auch jener Häuserkomplex, der künftig als Unterkunft für die 16 Flüchtlingskinder dienen soll. Zwei Dreigeschosser. Raue, graue Fassade und rotes Ziegeldach. Bis Mitte vergangenen Jahres war hier die Landesrettungsschule des Deutschen Roten Kreuzes untergebracht. Doch die Ausbildungseinrichtung für angehende Sanitäter und Rettungsassistenten zog im August in die Innenstadt um. Schon damals wurde gemutmaßt, dass in den leerstehenden Gebäuden Flüchtlinge untergebracht werden könnten. „Nietleben und die DRK-Schule sind nicht im Gespräch“, machte Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand jedoch gegenüber dem lokalen Nachrichtenmagazin Hallespektrum.de im Juli deutlich, wobei er damit die Umgestaltung der Schule zu einer Gemeinschaftsunterkunft meinte. Auch die Nutzung als Grundschulhort wurde verworfen. „Das gibt das Gebäude baulich nicht her“, erklärt Sozialdezernentin Katharina Brederlow.

„Wir werden hier einfach übergangen“

Vor Ort empfindet man das nun als „Verarsche“. So wurde das Vorgehen der Stadt und des DRK auf der Bürgerversammlung bezeichnet. Die Frau, die beim Ortsbesuch am Montagmittag gerade die Tür zu ihrem Grundstück abschließt, drückt sich gewählter aus. Sie wohnt direkt gegenüber der Unterkunft der Minderjährigen. Eigentlich wolle sie gar nichts sagen. „Wir werden hier einfach übergangen“, meint sie dann aber doch.

Schon vor den Landtagswahlen hätten die Bewohner gefragt, was mit dem Haus passiere. „Im November haben die hier schon Möbel reingetragen, da dachten wir uns schon, dass da was im Busch ist“, sagt sie. Antworten bekam sie aber nicht. Die gab es erst 14 Tage vor Inbetriebnahme der Clearingstelle, bei eben jener Bürgerversammlung. Die Frage, was eine frühzeitigere Information geändert hätte, beantwortet sie nicht mehr. Die Frau schwingt sich auf ihr Fahrrad und radelt schnell davon.

"Unterbringung eine Belastung"

Redseliger ist da ein Mann, der gerade Tüten aus seinem Auto auslädt. In der Kleingartenanlage, die am Ende der Sackgasse beginnt, hat er eine Parzelle. Fast täglich sei er hier. Er ist freundlich und vorsichtig. „Das ist für die Menschen hier Ruhe und Idylle“, sagt der Rentner. Und die sei nun in Gefahr. „Da kommen ja Jugendliche und natürlich werden die hier in der Freizeit auf der Straße unterwegs sein und vielleicht auch Unsinn machen“, meint der Mann und ergänzt: „So haben wir es früher ja auch gemacht.“ Er könne sich vorstellen, dass die Kriminalität ansteigen werde. „Für die Anwohner ist die Unterbringung eine Belastung, die sie einfach nicht wollen.“ Dass es sich um Flüchtlinge handelt, ist für ihn allerdings nicht der Grund für die Empörung: „Die Aufregung wäre auch so groß, wenn hier schwer erziehbare Jugendliche herkommen würden.“

Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist

Was die Menschen in Nietleben eigentlich fordern, ist eine Art Bestandsschutz für ihr Örtchen. Die Angst, die sich in Wut und Beschimpfungen äußert, ist eine vor Veränderung. Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Die Probleme der Welt sollen nicht zwischen ihre Einfamilienhäuser gequetscht werden. Allerdings sehen das nicht alle Nietlebener so. Beim Verlassen des Stadtdorfes schlendert eine junge Frau die Hauptstraße entlang. „Aber irgendwohin müssen die Kinder doch“, sagt die 24-Jährige. Sie lebt schon immer in Nietleben, mag die Abgeschiedenheit. Angst vor den neuen Einwohnern hat sie allerdings nicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die hier randalierend durch die Straßen ziehen“, sagt die junge Frau. „Die werden das Viertel eher bereichern.“ (mz)

Vor der Bürgerversammlung war es noch ruhig.
Vor der Bürgerversammlung war es noch ruhig.
TV Halle