Lebenslauf Lebenslauf: Der Durchboxer
Halle (Saale)/MZ. - Es wird nicht besser werden in den nächsten Wochen. Nur kälter, mühsamer und auch ein bisschen leerer. Uwe Schuster kennt das aus den letzten Jahren. Wenn der Winter kommt, kommen auch ein paar ganz harte Kerle nicht mehr zum Training in seinem Profiboxcamp. Das betreibt der 48-Jährige in einem Abrisshaus abseits der Innenstadt. Erster Stock übern Hof, Ofenheizung, zugige Holzfenster. Der Bröckelputz der DDR-Wohnungswirtschaft umarmt den kantigen Charme eines alten Fabrikgebäudes. Der Ölsockel im Treppenhaus ist abgeplatzt. Es riecht nach Holzfeuer, Ziegelstaub und altem Schweiß.
Hinter einer Blechtür tänzelt Uwe Schuster über das stumpfe Linoleum. Der Mann aus Halberstadt, aufgewachsen in einer Berliner Sportschule und später von der Liebe nach Halle getrieben, hat nicht mehr die Figur des Leichtgewichtlers, der einst für den TSC Berlin antrat. Aber in den Bewegungen des "Commander", wie seine Schützlinge ihn nennen, ist der Boxer immer noch zu sehen. Die Augen flitzen. Der Nacken federt. Die Gesten sind explosiv. Der Mann ist mit dem Leben im Infight, er will sich nicht treffen lassen, weiß aber, dass dieser Kampf über mehr als zwölf Runden geht.
Schuster hat aus der Verlegenheit seine Tugend gemacht. Andere Boxcamps sind schick und modern, seins ist dafür echt. Das härteste Boxtraining Deutschlands gibt es hier, verspricht Schuster: Geduscht wird unter dem Wasserschlauch auf dem Hof. Geheizt durch Bewegung. Boxen, sagt der Commander, ist kein Mädchenballett.
Boxen ist Überlebenskampf, jeden Tag. Uwe Schuster hat es nie leicht gehabt, er hat es sich aber auch nicht leicht gemacht. Als er als Junge kurz davor stand, ein großer Faustkämpfer zu werden, hörte er auf seinen Bauch, der die ständige Abkocherei vor den Kämpfen nicht mehr ertrug. Schuster warf die Brocken an der Sportschule hin und gab seinen Traum auf. "In dem Moment war das richtig", sagt er heute, "denn alle zwei Wochen acht Kilo runterzudampfen, hält auf Dauer kein Mensch aus." Uli Wegner, heute der große alte Mann des deutschen Profiboxens, hat ihn damals beiseite genommen. Letzte Chance, Schusti. Aber der 18-Jährige bleibt dabei: Zu meinen Bedingungen. Oder gar nicht.
Der enttäuschte Wegner hat danach nicht mehr mit ihm gesprochen. Uwe Schuster schlägt sich so durch. Lehre. Beruf. Fallschirmjäger bei der NVA, weil ihm im Zivilen einfach der Drill fehlt, den er aus dem Internat gewohnt ist. Damals, sagt er, sei er ja auch überzeugt gewesen, dass die DDR auf Seiten der Guten stehe. Und das, obwohl ihm die Stasi schon im Nacken sitzt. Verdächtige Freunde. Viel Alkohol. Frauengeschichten. Schuster ist Gentleman: Guckt einer dumm auf die Dame, zuckt die Faust. Schuster wandert in Haft. Die NVA entlässt ihn in Unehren.
Über das Land seiner Kindheit sagt Uwe Schuster heute trotzdem kein böses Wort. Es war klein, es war sein. "Mann, was wir für Geld verdient haben", schwärmt er. Mit selbstgebasteltem Kram steht er damals auf Märkten und die Leute reißen ihm das Zeug aus den Händen. Zur Arbeit sei er eigentlich nur gegangen, um Ärger mit den Staatsorganen zu vermeiden, lacht er bei der Erinnerung daran.
Die Boxerei war so weit weg wie der Mond. Uwe Schuster hat weder Handschuhe noch Sandsack noch Zeit, zu trainieren. Als die Wende kommt, stürzt er sich ins Geschäftsleben, er wird Klebstoff-Großhändler, hat sogar einen Angestellten. Bis die Kunden nacheinander aufgeben müssen und "einfach nichts mehr ging".
Das mit dem Boxen hat sich dann so ergeben. Die Geschäftsperspektive für den Klebstoffhandel war weg. Und Philipp, Schusters Sohn, wurde in der Schule gemobbt. Eines Tages stand der Zehnjährige vor ihm und fragte: "Kannst Du mir das Boxen beibringen?" Nur, wenn Du es ernst meinst, hat Uwe Schuster geantwortet. Ein paar Tage später war er zurück im Ring, bereit für die nächste Runde.
Vor zehn Jahren war das. Es ist seitdem nicht leichter geworden. Gut, Philipp Schuster, genannt "Panzer", ist inzwischen Weltmeister. Das Profiboxcamp hat sich einen Ruf erobert, der weit über Sachsen-Anhalt hinausreicht. Der Rapper Mastino hat dem selbsternannten Ghettocamp eine Hymne geschrieben, die "deutsche Eiche" Timo Hoffmann hat hier trainiert und so ziemlich alle Fernsehsender waren da, um einmal richtiges "Rocky"-Feeling live einzufangen. Und, ach ja, Trainerkollege Uli Wegner redet wieder mit ihm.
Aber gewonnen ist gar nichts. Uwe Schuster kämpft immer noch und immer wieder. Um die Miete. Um Holz zum Heizen. Darum, dass seine Boxer in die großen Kampfabende reinkommen. Darum, dass die Jugendlichen, die ihm das Amt schickt, damit sie ihre Sozialstunden bei ihm ableisten, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, nicht nach getaner Arbeit gleich den nächsten Mist bauen.
Der Commander, der auf seiner Gitarre am liebsten den Blues spielt, hat es nicht so mit Illusionen. Es ist eng. Es wird eng bleiben. Profiboxen klinge immer nach viel Geld, nach Glamour und Prominenten, sagt er. "Das ist aber bloß das Boxen, bei dem Fernsehsender zahlen." Hier unten in der Boxprovinz, wo der Bollerofen das beim Krafttraining gehackte Holz frisst und Uwe Schuster seine Mitgliedskartei in einem alten Schulheft führt, ist nur der Schweiß heiß. Na klar, das Mitgliedsheft sieht voll aus. Jungs, Mädchen, Studenten, Lehrlinge. Die meisten kommen, weil sie hier für kleines Geld trainieren können, wann sie wollen. "Aber dann können sie oft nicht mal das bezahlen."
Schuster lässt sie meistens trotzdem weitermachen. "Reich werde ich hier sowieso nicht mehr", sagt er. Der Boxstall ist keine Goldgrube, sondern ein Bergwerk, in dem der kompakte Mann mit den flinken kleinen Augen Freiheit für sich selbst fördert und anderen zeigt, dass das geht. "Ich habe keinen Chef", sagt Uwe Schuster, "ich bin mein eigener Herr." Funktioniert nur, wenn man in der Lage ist, sich selbst zu motivieren. Und den Hintern hochbekommt, auch wenn einem keiner reintritt.
Schusters Art Freiheit ist harte Arbeit, Quälerei und fortdauerndes Zweifeln. Reicht es diesen Monat für die Miete? Reicht es für genug Holz für den ganzen Winter?
Uwe Schuster ist ein lauter Mann, der seine Nachdenklichkeit hinter laut polternder Fröhlichkeit verbirgt. Darunter aber denkt es fortdauernd nach: Über das Boxgeschäft, dessen Abgründe nur ermessen kann, wer so tief in sie hineingeschaut hat wie der Commander. Oder über die Jugendlichen, die zu ihm kommen wie schwarze Schafe, die sich an der Schlachtbank melden müssen.
Schuster, der seine Ausbildung zum Sozialarbeiter dem eigenen turbulenten Leben verdankt, fasst sie hart an. Wer leben will, sagt er müsse wie ein Boxer zuallererst das Verlieren lernen. Einstecken. Hinfallen,. Wieder aufstehen. Nicht aufgeben. Sich durchboxen. Das ist der schwere Teil, im Ring und außerhalb. "Siegen kann jeder."