Kulturbau und Todesstätte
HALLE/MZ. - Wenn Rainer von Sivers, Koordinator der Initiative Zivilcourage, während eines Rundgangs zu Stätten des Widerstands und der Vernichtung über jüdisches Leben spricht, dann gehört der Friedhof an der Dessauer Straße dazu.
Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die jüdische Gemeinde um eine neue Friedhofsanlage bemüht. Nach langen Verhandlungen mit der Stadt bekam sie das Areal unmittelbar neben dem Gertraudenfriedhof. Der Leipziger Architekt Wilhelm Haller erhielt den Auftrag, eine Trauerhalle für diesen Friedhof in der damaligen Boelckestraße zu entwerfen.
Am 10. Mai 1929 war Baubeginn, nur wenige Monate später, am 20. November 1929, wurde sie eingeweiht. Eine Festschrift würdigte damals die gesamte Anlage als ein bedeutendes Werk der jüdischen Friedhofskultur des 20. Jahrhunderts. Der Friedhof mit Trauerhalle wird als "Bet Olam" (Haus der Ewigkeit) bezeichnet, weil der Mensch nach dem irdischen Tod, so von Sivers, "dem jüdischen Glauben entsprechend ins ewige Leben übergeht".
Nur zehn Jahre nach der Errichtung aber wurde die Halle umgebaut - zu einem Alten- und Rückwandererheim, wie es die Nationalsozialisten bezeichneten. Im Klartext hieß das: Die Juden wurden in der Boelckestraße (und anderen Quartieren zum Beispiel in der Humboldtstraße, der Germarstraße, am Großen Berlin und am Harz) konzentriert untergebracht. "Um sie schnell deportieren zu können - in die Vernichtungslager", so von Sivers. Nach und nach mussten sich dort nicht nur hallesche, sondern auch Juden aus anderen Teilen Deutschlands einfinden - und auf ihren Transport in den sicheren Tod warten.
1937 wurde der alte jüdische Friedhof in der Gottesackerstraße, der 1693 angelegt worden war, aufgelöst, die Grabsteine von dort in die Boelckestraße gebracht. Als in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 durch den Hass- und Gewaltausbruch der Nationalsozialisten ungezählte Juden ihr Eigentum und viele selbst ihr Leben verloren, wurde in Halle die Synagoge in der Brauhausstraße zerstört. Die Trauerhalle in der Boelckestraße und das Gemeindehaus in der Germarstraße wurden beschädigt. Jüdisches Leben konnte sich auch in Halle erst nach dem Zweiten Weltkrieg zaghaft wieder entwickeln. Der Friedhof samt der Gebäude wurde nach 1945 erneut jüdisches Eigentum.
Der Rundgang führt von diesem Friedhof Dessauer Straße weiter über die Humboldtstraße (dort befindet sich die heutige Synagoge, die 1953 geweiht worden ist) zum Jerusalemer Platz. Es ist der Platz, der seit dem 17. Jahrhundert Standort der jüdischen Synagogen bis zur Zerstörung 1938 war. Seit dem Jahr 1965 erinnern unterschiedliche Mahnmale daran. Während des Rundgangs werden die Teilnehmer auch mit wichtigen jüdischen Mitbürgern der Stadt aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft bekannt gemacht.