Kinder von Asylbewerbern Kinder von Asylbewerbern: Der Flüchtlings-Arzt am Uniklinikum Halle

Halle (Saale) - Marwa war hochschwanger, als sie mit ihrem Mann aus Syrien floh. 15 Tage hat die Flucht gedauert. „Wir hatten keine andere Wahl - entweder sterben oder fliehen“, sagt Emad Mahamad Aldaghli. Es ging gut. Am 2. November wurde in Halle Sohn Alaa geboren - mit Gestik, etwas Englisch und Google-Übersetzer lief bei der Geburt im Elisabeth-Krankenhaus die Verständigung. Jetzt, zur Vorsorge-Untersuchung in der Uni-Klinik in Kröllwitz, sind die Eltern erleichtert. Nicht nur, weil Alaa gesund ist. Auch, weil sie sich mit dem Arzt in ihrer Muttersprache verständigen können. Das ist, sagt Aldaghli, ein Gefühl, als würde er Vater und Mutter treffen.
Mediziner Rabie Twal kennt solche Reaktionen. Seit Anfang Oktober bietet die Uni-Klinik Flüchtlingsambulanzen - für Erwachsene, für Kinder und Schwangere. Twal, sagt der Direktor der Kinderkardiologie, Professor Ralph Grabitz, sei in der Kinderambulanz „die Allzweckwaffe“. Der 30-Jährige ist in Deutschland aufgewachsen, hat vier Jahre aber auch in Jordanien, dem Land seines Vaters, verbracht. Und spricht auch arabisch. Eltern, die mit ihren Kindern kommen, seien anfangs überrascht, sagt er. „Und dann fällt ihnen ein Stein vom Herzen, weil sie seit Wochen das Gefühl haben, sich nicht richtig ausdrücken zu können.“
Geschichten über die Flucht
Twal ist einer von derzeit vier Ärzten, die abwechselnd die Kinderambulanz betreuen. Mit 80 Prozent der Flüchtlinge kann er sich auf Arabisch verständigen - sie kommen aus Kurdengebieten, Syrien, dem Irak. „Ihm erzählen sie auch Dinge, die sie sonst wohl nicht erzählen würden“, sagt Grabitz. Auch Fluchtgeschichten, die in Erinnerung bleiben - wie die der Syrerin Anfang 20, deren Mann erschossen wurde, die sich mit ihrem zweijährigen Kind durchschlug. „In Serbien haben sie zwischen Mülltonnen geschlafen“, sagt Twal. Als Arzt müsse er zwar auch Abstand wahren, um behandeln zu können. „Es ist aber wichtig, die Menschlichkeit nicht zu verlieren.“
Bis zu sechs Patienten werden in der zweistündigen Sprechzeit versorgt, die die Kinderambulanz montags bis freitags anbietet. Die Zahlen schwanken, sagt Grabitz - auch abhängig davon, wie die Belegung in der Erstaufnahmeeinrichtung im ehemaligen Maritim-Hotel gerade aussieht. Die vorgeschriebene Erstuntersuchung nach der Ankunft findet noch im Elisabeth-Krankenhaus statt. Vor allem zur späteren Versorgung der im Maritim untergebrachten Flüchtlinge wurden die Ambulanzen in der Uniklinik eingerichtet.
Hilfe für Kollegen
„Inzwischen erleben wir jeden Tag eine Situation, die zum ersten Mal auftritt“, sagt der Professor. So rief etwa eine niedergelassene Kollegin an, vor der ein syrischer Vater mit drei Kindern stand. Sie verstand ihn nicht. Zum niedergelassenen Arzt gehen Flüchtlinge mit einem Behandlungsschein des Sozialamtes üblicherweise, sobald sie von der Erstaufnahmeeinrichtung auf die Kommunen verteilt sind. Allein die Sprachbarriere kann aber eine Sprechstunde sprengen. Das Uniklinikum - in ihm arbeiten Menschen aus gut zwei Dutzend Nationen - hat im Fall des Syrers nun zumindest die erste Abklärung übernommen. Weiter behandelt werden soll dann bei niedergelassenen Kollegen.
In der Klinik läuft die Flüchtlingsambulanz extra - und „ohne dabei andere Dinge zu bremsen“, wie Grabitz betont. Auf dem Boden angebrachte blaue Füße (für Kinder), gelbe (für Erwachsene) und rote (für Schwangere) weisen den Patienten im Haus den Weg zur Ambulanz. Es gebe einen Warteraum, in dem die Anamnese stattfindet, Papiere ausgefüllt werden - letzteres braucht deutlich mehr Zeit als sonst üblich. Am Ende jeder Behandlung füllt der Arzt zudem ein Formular mit wichtigen Informationen aus, das die Eltern zum nächsten Arzt mitnehmen - der nicht zwingend in Halle ist. In dieser Woche etwa sollte ein vierjähriges Kind noch einmal gebracht werden. Dann kam der Anruf: Es ist schon auf dem Weg in die nächste Unterkunft nach Stendal. „So etwas ist für uns nicht immer vorhersehbar“, sagt Grabitz.
Rund ein Drittel der Kinder, die in der Ambulanz behandelt werden, haben nach Angaben des Professors chronische oder „mitgebrachte“ Leiden - von Schilddrüsenfehlfunktionen bis hin zur Augenverletzung, die ein 17-Jähriger in Syrien offenbar durch Granatsplitter erlitt. Der Rest leide unter Fieber oder akuten Erkrankungen wie Durchfall oder Lungenentzündung. 20 bis 30 Prozent müssen stationär aufgenommen werden - wie das erste Kind überhaupt in der Ambulanz. Es war ein drei Wochen altes Baby aus Afghanistan mit schwerer Lungenentzündung. Mit Durchfall reagieren Kinder auch auf Bedingungen der Flucht: wenn sie in jedem Land andere Milch bekamen - oder nur eingeweichtes Brot und jetzt plötzlich Milch. „Übertragbare Krankheiten haben die Kinder nicht mehr als andere“, sagt Grabitz. Ihr Allgemeinzustand sei unterschiedlich. Nicht erst einmal haben die Ärzte in Halle erlebt, dass sie auf der Flucht öfter behandelt wurden. „Bei Kindern ist Hilfe offenbar schneller realisierbar“, sagt Grabitz. Auch für ihn gilt: „Die Kinder gehören versorgt, egal, woher sie kommen und wohin sie gehen.“ Abgerechnet wird mit den Kommunen beziehungsweise dem Land.
Im Behandlungszimmer von Rabie Twal schlägt unterdessen die Stunde von Medizinstudent Makki Al-Gunaid. Jeden Tag steht ein Student bereit, um bei der Vorbereitung und Übersetzungen zu helfen. Al-Gunaid, vor sechs Jahren aus dem Jemen gekommen, hat die Eltern der zehn Monate alten Fatima aus Afghanistan ausgefragt - obwohl er deren Sprache nicht spricht. „Ich habe einen Freund angerufen, der Persisch kann“, sagt er. Das wichtigste kann er dem Arzt nun berichten: Sekret in den Ohren, kein Fieber, kein Durchfall. Fatima bekommt Antibiotika gegen Mittelohrentzündung. Twal erklärt es auf Englisch - ein paar Brocken versteht der Vater des Mädchens. „Das ging ja ganz gut“, sagt der Arzt hinterher. Es gab schon Fälle, in denen wirklich nur Hände und Füße zur Verständigung blieben. (mz)
