Queere Menschen in NS-Zeit Interview zu den vergessenen Opfern in Halle: Was queere Menschen in der NS-Zeit erleiden mussten
Sie sollten wieder in die „Volksgemeinschaft“ oder wurden weggesperrt. Das Schicksal queerer Menschen in der NS-Zeit ist ein Thema, bei dem es auch um die „Universitäts-Nervenklinik“ in Halle geht.

Halle/MZ. - „Sichtbar machen“ lautet das Motto, das der Verein für hallische Stadtgeschichte seiner diesjährigen Vortragsreihe gegeben hat. In der nächsten Veranstaltung am Dienstag, 17. September, geht es um einen bislang kaum beachteten Themenkomplex: „Queere Stadtgeschichte im Zeitalter der NS-Diktatur“. Beschrieben wird unter anderem eine queere hallische Biografie in der NS-Zeit. Anton Schulte beschäftigt sich mit der Rolle der „Universitäts-Nervenklinik“ in der Julius-Kühn-Straße in Halle. Darüber sprach Walter Zöller mit dem Historiker. Herr Schulte, worüber werden Sie während des Themenabends referieren?
Anton Schulte: Ich habe dem Vortrag den Titel „Vergessene Opfer des Nationalsozialismus - Queerness und Psychiatrie in Halle“ gegeben. Grundlage ist meine Promotionsarbeit. Darin untersuche ich, wie queere Personen - also Menschen, die man beispielsweise wegen ihrer Sexualität oder ihrer Geschlechteridentität verfolgte - in der Zeit des Nationalsozialismus in die Psychiatrie kamen und wie sie dort behandelt wurden.
Wie war der Umgang mit Menschen mit wahrgenommen geschlechtlichen und sexuellen Abweichungen?
Dazu habe ich mir die „Universitäts-Nervenklinik“ in der Julius-Kühn-Straße angesehen. Ich untersuche, unter welchen Umständen queere Personen dort hinkamen, was dort mit ihnen geschah und wie das Klinikpersonal diese Menschen wieder „normal“ machen wollte.Sie konnten Patientenunterlagen auswerten?
Ich habe mir rund 2.000 Akten aus der Zeit von 1929 bis 1939 angeschaut, systematisch ausgewertet und 29 Fälle von queeren Menschen gefunden. In diesen Akten kommen die Patienten selbst nur sehr selten zu Wort. Darin steht, warum die Personen eingeliefert wurden, was Ärzte zu Behandlungswegen sagten, es finden sich Tagesprotokolle sowie Schriftverkehr mit anderen Kliniken und Angehörigen. Sind queere Menschen auch freiwillig in die Julius-Kühn-Straße gekommen?
Die Einweisung geschah immer gegen ihren Willen. Meist waren Angehörige die treibende Kraft, manchmal war es die Polizei.Was haben Sie bei Ihren Untersuchung herausgefunden?
Es gab queere Personen, die in Kliniken wie in der Julius-Kühn-Straße behandelt wurden. Das hört sich banal an, ist aber eine wichtige Erkenntnis, weil es bisher zu diesem Themenkomplex kaum eine wissenschaftliche Arbeit gibt. Tatsache ist: Psychiater waren in der NS-Zeit auch in Halle daran beteiligt, queere Menschen als krank einzuordnen. Sie sollten mit der Behandlung wieder heterosexuell gemacht und so in die „Volksgemeinschaft“ entlassen werden. Ziel war es, eine bürgerliche Geschlechter- und Sexualitätsordnung wieder herzustellen. Mit welchen Mitteln sollte das passieren?
Es gab verschiedene Behandlungswege. Männern wurden meist leistungssteigernde Mittel verabreicht, sie sollten dann wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Queere Frauen versah man mit dem Etikett, sie seien aufmüpfig. Sie erhielten Beruhigungsmittel und wurden mit kaltem Wasser abgespritzt. Sie musste sich an Reinigungsarbeiten in der Klinik beteiligen, um die Rolle der Hausfrau und Mutter zu erfüllen. Generell wurde der Aufenthalt in der Klinik als Bewährungsraum angesehen. Queere Menschen sollten wieder in die „Volksgemeinschaft“ zurückgeführt werden.Geschah das auch?
Einige Betroffene haben diese Pathologisierung übernommen. Sie sahen sich plötzlich als krank an und wollten wieder „normal“ werden. Ich bin aber auch auf Patienten gestoßen, die wollten von ihrer angeblichen Krankheit nichts wissen. Sie haben versucht, auf irgendeine Weise heil aus der Klinik zu kommen. Queere Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung wurden nicht erst während der Nazi-Herrschaft ausgegrenzt und verfolgt.
Das Bild von zwei Geschlechtern mit streng abgegrenzten Verhaltensregeln existierte schon lange. Der Mann war rational, stark und ging einer bezahlten Arbeit nach. Frauen waren emotional, schwach, erfüllten ihre Mutterrolle und zogen Kinder groß. Diese Vorstellungen hatten zunächst nichts ursächlich mit dem Nationalsozialismus zu tun, sie gab es schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.
In der NS-Zeit kam aber die politische Dimension hinzu. Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung, die der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ nicht entsprachen, drohte ein schlimmes Schicksal: Sie konnten auf Grundlage des Erbgesundheitsgesetzes sterilisiert werden, sie wurden in dauerhaft geschlossenen Einrichtungen weggesperrt, sie kamen in ein Arbeitslager oder ein KZ. Was steht dazu in den Akten der „Universitäts-Nervenklinik“?
Ich habe keine Belege dafür gefunden, dass queere Personen sterilisiert wurden. Bei mehreren Personen war die Sterilisation von ärztlicher Seite laut Aktenlage schon fast beschlossene Sache, die Betroffenen konnten aber dann durch ihre eigene Intervention das drohende Verfahren beim Erbgesundheitsgericht und demnach auch die Sterilisation abwenden.
Das heißt, sie konnten die Ärzte in der Klinik davon überzeugen, dass sie doch keine erbgesundheitliche Bedrohung darstellten. Aber aus den Akten geht hervor, dass knapp die Hälfte der Betroffenen in ein Arbeitslager oder in die Heil- und Pflegeanstalt in Nietleben kam. Sie war im Gegensatz zur Julius-Kühn-Straße eine geschlossene Einrichtung. Das bedeutete meistens, dass Betroffene dort eingesperrt blieben.Die Veranstaltung findet am Dienstag, 17. September, ab 18 Uhr, in den Räumen des Stadtarchivs statt.