Interview mit Stadtplaner Jo Schulz Interview mit Stadtplaner Jo Schulz: Welche Zukunft hat Halle-Neustadt?

Halle (Saale)/MZ - Ab Mittwoch suchen Architektur-Studenten und Professoren aus ganz Europa eine Woche lang Antworten auf die Frage: Welche Zukunft hat Halle-Neustadt? Im Mittelpunkt des renommierten Workshops werden auch die Hochhaus-Scheiben stehen, die den Mittelpunkt des Stadtteils prägen, der ab Mai 50-jähriges Bestehen feiert. Teilnehmer aus Schweden, Belgien, Polen und den Niederlanden wollen bis kommender Woche Prognosen erstellen (beispielsweise zur künftigen Bewohnerstruktur), Ideen entwickeln, wie es mit leer stehenden markanten Gebäuden weitergehen könnte und das Verhältnis zwischen Altstadt und Neustadt untersuchen. Organisiert wird der Workshop vom Kompetenzzentrum Stadtumbau. Mit dessen Geschäftsführer, dem Stadtplaner und Architekten Jo Schulz, hat unser Redakteur Gert Glowinski gesprochen.
Neustadt hat seit der Wende mehr als die Hälfte seiner Bewohner verloren. Ist die einstige „sozialistische Musterstadt“ noch zu retten oder bleibt auf lange Sicht nur der Abriss?
Schulz: Abreißen ist wohl das am wenigsten Intelligente, was man tun könnte. Praktisch nirgendwo auf der Welt gibt es eine so in sich geschlossene neue Stadt, eine klassische Stadt der Moderne. Plattenbaugebiete gibt es natürlich viele. Aber so etwas Besonderes wie Halle-Neustadt findet sich höchstens in Brasilia oder Tel Aviv. In dieser Liga spielt der Stadtteil. Ich denke, es ist deswegen an der Zeit, die Stadtentwicklung hier neu zu überdenken.
Sie loben Neustadt sehr. Viele Hallenser würden Ihnen aber sicher kaum zustimmen ...
Schulz: Ich glaube schon, dass viele Hallenser durchaus wissen, was sie an Neustadt haben. Es war doch völlig richtig, nach der Wende den Fokus zunächst auf die Sanierung der Altstadt zu legen. Neustadt war da nicht interessant. Mittlerweile setzt aber eine Gegenbewegung ein. Ich widerspreche Ihnen auch. Neustadt wächst in einigen Bereichen wieder, es gibt Nachfrage nach Wohnungen. Und das ist auch nicht verwunderlich. Gerade junge Leute wissen Wohnungen hier zu schätzen, das ist belegbar.
Im Lesesaal auf der Galerieebene des Hauptbahnhofs Halle können Reisende und Besucher ab sofort den zweiten Teil der Ausstellung über den Aufbau von Halle-Neustadt kostenfrei besuchen. Gezeigt werden Fotografien, mit denen die Geschichte des Stadtteils in verschiedenen Momenten festgehalten wurde. Anlässlich des 50. Stadtjubiläums fand bereits 2013 der erste Teil einer Ausstellung über den Aufbau von Halle-Neustadt in den 60er Jahren in der Bahnhofslounge Bastian unter der Überschritt „Halle-Neustadt - Wo die Straßen keine Namen hatten“ statt. Dem folgt nun der zweite Teil mit historischen Aufnahmen aus den 70er Jahren.
Im Rahmen des Projektes HALLEHautnah werden verschiedene Aufnahmen von Gerald Große, Fotograf und ehemaliger Einwohner Halle-Neustadts, der zur Zeit in Wien lebt, präsentiert. Die Bilder zeigen die Entstehung und Entwicklung einer Stadt, die gänzlich auf Straßennamen verzichtete und stattdessen Häuserblocks, die das typische Stadtbild prägten, durchnummerierte.
Also lassen sich junge Menschen vom schlechten Image des Stadtteils nicht sehr beeindrucken?
Schulz: Natürlich hat Neustadt ein Imageproblem, aber die Häuser können nichts dafür, was Menschen ihnen anhängen. Zu DDR-Zeiten waren die meisten sehr froh, hier eine Wohnung zu bekommen, nach der Wende wollten viele wieder weg. Das hatte natürlich auch ideologische Aspekte. Um die müssen sich junge Menschen zum Glück nicht kümmern. Sie sehen vor allem eine gute Infrastruktur in Neustadt und tolle Wohnungen. Ich denke da zum Beispiel an den Umbau von Blöcken zu Häusern mit schönen Laubengängen. Das Interesse an solchen Projekten ist groß.
Und die Scheiben? Die Begeisterung von Investoren für diese Häuser hält sich bislang arg in Grenzen. Das einfachste wäre doch sicher, sie endlich abzureißen.
Schulz: Die Scheiben sind städtebaulich wichtig. Sie markieren das Zentrum Neustadts. Unser Workshop soll auch Nutzungsmöglichkeiten für diese Hochhäuser aufzeigen.
Mit Verlaub, aber bisher scheiterten alle Ideen am Ende an der Finanzierung - und auch am Interesse bei Geldgebern.
Schulz: Manches braucht eben seine Zeit. Ich bin gespannt, was die Professoren und Studenten gerade für die Scheiben herausarbeiten werden. Sie werden und müssen eine Zukunft haben.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war unlängst zu lesen, Neustadt habe durchaus auch ein touristisches Potenzial. Glauben Sie auch daran?
Schulz: Natürlich. Noch einmal: Mit Neustadt haben Halle und Sachsen-Anhalt ein Alleinstellungsmerkmal. Wo noch gibt es eine Stadt, die komplett neu konzipiert und gebaut wurde, mit eigenem Zentrum, Kindereinrichtungen, Schulen, öffentlichen Gebäuden und so weiter? Das ist doch faszinierend und vor allem architektonisch sehr interessant. Ein Pfund, mit dem man wuchern sollte.
Sie klingen tatsächlich überzeugt...
Schulz: Ich bin davon überzeugt, dass man auch negative Einstellungen zu Neustadt überwinden kann. Jetzt ist die Zeit, diesen Stadtteil neu zu bewerten. Dafür soll auch der heute beginnende Workshop einen Teil leisten.
Dieser Tage feiert Neustadt sein 50-jähriges Bestehen. Was sagen Sie für die nächsten 50 Jahre voraus?
Schulz: Hoffentlich wird man dann nicht mehr die Nase rümpfen, wenn von Halle-Neustadt die Rede ist. Vielleicht wird es eine ähnliche Bewegung geben wie in Berlin. Dort waren Bauten aus den 20er Jahren auch lange verpönt. Nun werden sie wertgeschätzt. Die Wohnanlagen aus der Zeit der Weimarer Republik bieten eine hohe Wohnqualität und sind den heutigen Anforderungen besser gewachsen, als vieles, was danach gebaut worden ist. Ähnlich verhält es sich doch in Neustadt. Viele Standards, die beim Bau damals galten, müssen heute wieder mühsam erlernt werden: breite Treppenhäuser oder funktionale Grundrisse etwa.
Die Ergebnisse des Workshops werden am Freitag (ab 16 Uhr) und kommenden Montag (8 bis 14 Uhr) im Neustadt-Zentrum präsentiert. Weitere Informationen unter: www.kompetenzzentrum-stadtumbau.de
