Hallenser kämpfen gegen ihre Angst Hallenser kämpfen gegen ihre Angst: Wie sich soziale Phobie auf das Leben auswirkt

Halle (Saale) - Julia* ist hübsch. Schmal, rot gefärbte Haare, moderne Brille mit dickem schwarzen Rahmen. Sie hat mit nur 28 Jahren zwei Masterabschlüsse in geisteswissenschaftlichen Fächern in der Tasche. Mit Einser-Durchschnitt. Eigentlich wollte sie damit Karriere im Kulturbereich machen. Dafür müsste sie aber auf den richtigen Events die richtigen Leute ansprechen. Und sich bewerben. Doch davor hat Julia Angst.
Stattdessen arbeitet sie in einem Bürojob, für den sie das jahrelange Studieren nicht gebraucht hätte. Eine Kollegin nennt sie immer Zuckerschnute. Das gefällt ihr nicht, aber sagen würde sie ihr das nie. Es war ihr Nebenjob während des Studiums und als ihre Chefin fragte, blieb sie. Es war der einfachste Weg. Ohne Bewerbung, ohne Vorstellungsgespräch, ohne neue Kollegen. Master-Abschlüsse hin oder her.
Bei sozialer Phobie machen fremde Menschen Angst
„Gute Noten helfen dir auch nicht, wenn du Panik im Supermarkt hast“, sagt sie. Fremde Menschen machen Julia Angst. Ein Besuch in der Drogerie ist für sie Horror. Wenn Julia spricht, spricht sie leise, spielt ununterbrochen an einem Haargummi herum, zieht und wendet ihn in ihren Händen. Eigentlich hat sie dafür immer eine Büroklammer dabei. Doch die hat sie heute vergessen. Ausgerechnet an einem Abend, an dem sie viel reden soll. Wenn sie sich traut.
Julia hat soziale Phobie, eine Krankheit, die zwar die häufigste Angststörung und dritthäufigste psychische Störung überhaupt ist, die aber kaum jemand namentlich kennt. Nach Schätzungen leiden zwei bis zehn Prozent der Menschen daran. Auch Julia. An diesem Dienstagabend sitzt sie mit vier weiteren Betroffenen in einem Raum der Paritätischen Selbsthilfekontaktstelle in Halle beim Treffen der Selbsthilfegruppe soziale Phobie. Eigentlich ist die Gruppe größer, doch viele wollten nicht kommen, als sie hörten, dass die Presse dabei sein wird. Julia hatte es vergessen. Sonst wäre auch sie wohl nicht da.
Soziale Phobie ist mehr als Schüchternheit
Extreme Schüchternheit - so könnte man eine soziale Phobie salopp beschreiben. In Wirklichkeit ist es viel komplexer. „Das hat schon Krankheitswert“, sagt Dr. Jürgen Hoyer, Psychologie-Professor an der TU Dresden. Er beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch „Soziale Angst verstehen und verändern“ mit genau diesem Phänomen und weiß: „Gerade bei Jugendlichen und Erwachsenen ist das ein großes Problem.“
Doch nicht jeder, der schüchtern ist, nicht gern Vorträge hält oder mit Fremden spricht, müsse auch gleich in psychologische Behandlung. „Wer schüchtern ist, bleibt vorsichtig in verschiedenen Situationen. Aber wenn es darauf ankommt, macht er es trotzdem.“, erklärt Hoyer. Soziale Phobie hingegen sei deutlich dramatischer. „Wer soziale Angst hat, vermeidet typische soziale Situationen oder erträgt sie nur unter sehr großer Angst.
Oft gilt: Alles, wo man im Mittelpunkt steht, wird vermieden. Die Angst bezieht sich dann darauf, etwas Peinliches zu tun.“ Und das hat Konsequenzen: „Beruflich und privat bleiben Menschen mit sozialer Angst deutlich unter ihren Möglichkeiten.“ Wenn überhaupt, starten Karrieren und Partnerschaften deutlich später.
Soziale Phobie - wer sich nicht präsentieren kann, hat Nachteile
Auch Marie*, 33, hat das erkannt: „Alle hier sind intelligent, haben aber schlechte Jobs, weil sie sich nicht präsentieren können.“ Schlechte Voraussetzungen für eine Karriere. Marie war oft froh über Absagen, weil sie Angst vor dem Vorstellungsgespräch hatte - oder schlimmer - davor, den Job tatsächlich zu bekommen. Hat sie ein Gespräch, erzählt sie es niemanden, „um die Hintertür offen zu halten und nicht hinzugehen.“ In der Schule war sie fleißig - „ein Streber“. Das hätten die anderen sie spüren lassen.
Elektrotechniker Thorsten*, 27, habe den anderen früher vor Prüfungen Mathe erklärt. Er selbst hatte dann aber aus Angst einen Blackout. „Doch selbst wenn etwas gut gelaufen ist, wird die Situation am Ende schlecht bewertet, weil Betroffene im Nachhinein irgendein Detail finden, das vielleicht nicht perfekt war“, erklärt Hoyer. „Ein positives Selbstbild habe ich nur, wenn es auf nichts ankommt“, beschreibt es Thorsten. „Lob prallt ab. Es gibt immer andere, die etwas besser machen.“ Er schiebt Bewerbungen absichtlich heraus, bis die Frist verstrichen ist.
Gründe für soziale Phobien sind unterschiedlich
Die Gründe für soziale Angst seien so vielfältig wie die unterschiedlichen Ausprägungen, erklärt Jürgen Hoyer. Ein Stück weit sei es Veranlagung. Auffällig sei aber auch, „dass viele Betroffene als Kinder gehänselt oder ausgegrenzt wurden.“
Davon erzählt auch Industriemechaniker Dirk*. „Begonnen hat alles kurz nach der Wende“, erklärt der 30-Jährige. Damals zogen seine Eltern mit ihm um ins Plattenbauviertel Silberhöhe. Der Schulwechsel brachte eine neue Klasse und die Isolation. „So richtig integriert war ich nie mehr“, sagt er. „Abschreckend, hemmungslos und brutal“ seien die Mitschüler gewesen. So ganz anders als der schmale Junge. Körperliche Attacken und Angriffe gehörten zur Tagesordnung.
Als Erwachsener hat er nun Angst, wieder in diese Opferrolle zu fallen. Sein derzeitiger Job sei nur Mittel zum Zweck, aber er wolle sich einfach nicht wieder in eine neue Gruppe integrieren müssen. Unter den Kollegen gehört er zu den Stillen. „In einer Arbeitsgruppe meinen eigenen Willen zu äußern, fällt mir schwer. Es wird dann eben so gemacht, wie die anderen sagen.“
Menschen mit sozialer Phobie ordnen sich meist freiwillig unter
Dr. Jürgen Hoyer nennt das „Unterordnungsgesten“. Die seien evolutionär wichtig gewesen in Gruppen, in denen Rangordnungen und ihre Einhaltung von überlebenswichtiger Bedeutung waren. „Heute wäre das eigentlich nicht mehr nötig.“
Dirk versucht, grundsätzlich nicht in Gruppen oder unter viele Leute zu geraten. Wenn eine fremde Nummer anruft, geht er nicht ran. Wenn ein Fremder vor der Tür steht, öffnet er nicht. „Ich mache lieber Sachen, wo ich selbst die Kontrolle habe.“ In die Disco zu gehen oder in den Supermarkt - das bereitet ihm Stress. „Man schränkt sich ein aufgrund der befürchteten Reaktion von anderen“, erklärt er und fixiert die Tischplatte. „In der schlimmsten Zeit hatte ich richtig Panik, überhaupt rauszugehen“, erklärt es Thorsten. Im Supermarkt habe er nur vor der Kassiererin weniger Angst. Da wisse er ja, was sie von ihm erwarte.
Auch Marie hat besonders Angst vor Situationen, in denen sie - aus ihrer Sicht - auf dem Prüfstand steht. „Geburtstagspartys sind der Horror“, sagt sie. „Ich mache mich vorher total verrückt und gehe durch, was alles passieren kann und was die über mich denken werden.“ Manchmal gehe sie dann einfach nicht hin. Einen Partner hat derzeit keiner der fünf, die an diesem Abend die Selbsthilfegruppe besuchen. Selbst beim Onlinedating müsse man ja ein Profil ausfüllen und sich präsentieren.
In Japan sind soziale Phobien besonders ausgeprägt
In Japan, dem Land, in dem es viel strengere soziale Regeln gibt, bezeichnen Experten unter dem Begriff Hikikomori die steigende Zahl junger Menschen, die sich in ihrer Wohnung oder dem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Außenwelt meiden. Schätzungen reden von 1,6 Millionen Betroffenen unter 127 Millionen Einwohnern.„Menschen, die sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen, die gesellschaftlichen Regeln einzuhalten, landen im Hikikomori.“, erklärt Jürgen Hoyer.
In Deutschland gebe es das in dieser Extremform zwar nicht. Die Angst, bewertet zu werden und die Erwartungen nicht zu erfüllen, sei aber eine zentrale bei sozialer Phobie. Hoyer ist es wichtig, dass diese öfter als solche erkannt wird. „Jeder kennt ja Situationen, vor denen man eine gewisse Scheu hat. Doch bei sozialer Angst hilft es eben nicht ’Hab dich nicht so!’ zu sagen.“ Stattdessen solle professionelle Hilfe geholt werden. „Ohne psychologische Behandlung wächst sich das schnell zu schlimmeren Krankheiten wie Depressionen oder Alkoholsucht aus.“
Bei Marie hat ihr Umfeld geholfen. „Mein Chef hat mein Potential erkannt“, sagt sie. Trotz Schüchternheit. Heute telefoniert sie ganz selbstverständlich mit Kunden, die auf ihre Expertise vertrauen. „Mittlerweile weiß ich alles zum Thema und wenn nicht, traue ich mich das auch mal zu sagen.“ Auch die Selbsthilfegruppe hätte sie gestärkt. „Vorher hatte ich immer das Gefühl, ich werde abgelehnt.“ (mz)
*Namen geändert