Halle und die Kryptosporidien Halle und die Kryptosporidien: Parasit im Freibad

Halle/MZ - „Wir suchen die Nadel im Heuhaufen“, sagte Halles Amtsärztin, aber eigentlich war das stark untertrieben. Eine Nadel ist schließlich ein paar Zentimeter lang und damit riesenhaft im Vergleich zu jenem Parasiten mit dem kaum aussprechbaren Namen. Einigen dürfte die Buchstabenfolge am Ende einer aufregenden Woche in der Saalestadt freilich flüssig über die Lippen gehen - Halles Amtsärztin, Dr. Christine Gröger, sowieso und auch allen anderen, die an der aufwändigen Suche nach dem Einzeller beteiligt waren.
Kryptosporidien, so heißen die Parasiten. Vier, fünf Mikrometer sind sie groß und für das bloße Auge also unsichtbar, denn ein Mikrometer sind 0,001 Millimeter.
Kryptosporidien findet man auf der ganzen Welt, sie sind nahe Verwandte der Gattung Plasmodium, dem Malaria-Erreger. Wie ernst deutsche Gesundheitsbehörden die Kryptosporidien nehmen, zeigt sich auch daran, dass die Erreger im Infektionsschutzgesetz namentlich aufgeführt sind. Für Ärzte besteht eine Meldepflicht, wenn sie bei Patienten Kryptosporidien feststellen.
Sechs Wochen ist es her, da wurde man in Halles Gesundheitsamt hellhörig: Vor allem Kinderärzte meldeten eine ungewöhnlich hohe Zahl an Patienten mit Durchfall-Erkrankung. Als Erreger wurde jedes Mal und eindeutig eben jenes Kryptosporidium identifiziert.
Zwei bis drei solcher Krankheitsfälle sind durchaus normal - pro Monat. Nun aber gab es auf einmal täglich neue Meldungen. Da der naheliegendste Verbreitungsweg des Erregers das Trinkwasser ist, zog die Stadtverwaltung am Dienstagabend die Reißleine - und zwar in Form einer dringenden Empfehlung: Alle Hallenser sollten bis auf Weiteres unbedingt das Trinkwasser abkochen; selbst vom Zähneputzen mit Leitungswasser wurde abgeraten.
Eine Überreaktion angesichts von ein paar Dutzend Krankheitsfällen bei mehr als 200.000 Einwohnern? „Nein, das war eine notwendige Vorsichtsmaßnahme“, sagt Halles Stadtsprecher Drago Bock. In der Tat: Dass sich eine Kryptosporidien-Infektion schnell zu einer regelrechten Epidemie auswachsen kann, zeigte sich im Jahr 1993. Damals erkrankten in der US-amerikanischen Stadt Milwaukee rund 300.000 Menschen.
Bis zu 250 Anrufe an der Hotline
Freilich: Panik wollte man auch nicht verbreiten. Amtsärztin Gröger mahnte folglich zur Besonnenheit. Jeder könne sich einfach aber wirkungsvoll vor einer Infektion schützen. Wichtig sei, die Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten. Überdies verlaufe die Krankheit in der Regel glimpflich.
Dennoch machte sich Verunsicherung breit. Bis zu 250 Anrufe liefen pro Tag bei der Hotline ein, die die Verwaltung eingerichtet hat. In Großküchen, vor allem aber in Kindertagesstätten und Altersheimen wurde vorgesorgt: Nicht nur in der Paul-Riebeck-Stiftung erhielten die Bewohner stilles Mineralwasser zum Zähneputzen. „Bei uns wird nun vermehrt desinfiziert“, sagte der Hygienebeauftragte der Einrichtung, René Conrad. Und bei Tagesmutter Karolin Fröhlich brodelte das Wasser literweise in Kochtöpfen auf dem Herd.
In Stuhlproben von infizierten Patienten sind die Kryptosporidien relativ leicht zu isolieren - doch wo war die Quelle des Erregers? Mitarbeiter des Gesundheitsamts nahmen unzählige Wasserproben - im Wasser jedoch ist der Parasit ungleich schwieriger nachzuweisen.
Rund 200 Kilometer südlich von Halle herrschte darum in einem Labor Hochbetrieb. Im sächsischen Kurort Bad Elster befindet sich eine Außenstelle des Bundesumweltministeriums, der Bereich II?3, spezialisiert auf „Trink- und Badebeckenwasserhygiene“, aufgeteilt in sechs Fachbereiche. Dort arbeitet auch der Chemiker Peter Renner. Er und seine Kollegen sind in der Lage, eine Wasserprobe so lange zu reduzieren und zu filtern und wieder zu reduzieren und wieder zu filtern, bis am Ende ein einziger Tropfen übrigbleibt - eben jener Tropfen, in dem die Kryptosporidien sind. Eine mühsame, hochtechnisierte Arbeit, die neben dem Labor in Bad Elster überhaupt nur noch ein anderes in ganz Deutschland zu leisten vermag.
„Abkochgebot“ wird aufgehoben
„Eigentlich“, sagt Renner, „sollte im Trinkwasser kein einziges Kryptosporidum sein“. In den Trinkwasserproben findet er auch keins. Dafür woanders: Am Donnerstagabend liefern die Experten aus Bad Elster endlich die ebenso überraschende wie erlösende Nachricht. Die Nadel ist gefunden. Und zwar im Wasser zweier hallescher Freibäder: im Nord- und im Salinebad. Beide Bäder werden von der Stadt umgehend geschlossen.
Am Freitag tagte eine Expertenrunde. Hauptergebnis: Das „Abkochgebot“ ist ab sofort aufgehoben. „Wir sind froh und erleichtert, die Quelle gefunden zu haben“, sagte Stadtsprecher Bock. Erleichtert ist man auch bei den Stadtwerken. Der Parasit im Freibad - das ist eine bessere Nachricht als wenn er im Trinkwasser gefunden worden wäre. Letzteres, konnte man gestern konstatieren, ist also doch von einwandfreier Qualität ist.
Manche Frage ist indes noch offen: Zum Beispiel die, wie der Parasit ins Schwimmbad-Wasser gelangt ist. Gab es einen technischen Fehler? Wurde der Erreger von einem Badegast eingeschleppt? Es ist unklar, ob diese Frage überhaupt beantwortet werden kann. Als Ersatz für die geschlossenen Freibäder haben die Stadtwerke einstweilen ein Hallenbad geöffnet.