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Familien-Roman in vier Bänden Familien-Roman in vier Bänden: Hallescher Autor auf Zeitreise zu sich selbst

Von Detlef Färber 22.09.2019, 16:00
Geschafft: Reinhard O. Hahn hat so etwas wie sein Lebenswerk in vier Bänden untergebracht.
Geschafft: Reinhard O. Hahn hat so etwas wie sein Lebenswerk in vier Bänden untergebracht. Lutz Winkler

Halle (Saale) - Es ist ein Marathon: Für den Autor der nun fertig vorliegenden Roman-Tetralogie war das Schreiben dieser vier Bücher, mit denen er, der hallesche Schriftsteller Reinhard O. Hahn, an seine Grenzen gehen konnte und musste, ein Schreibmarathon. Und auch für die Leser dürften die vier Bände mit im Schnitt jeweils reichlich 400 Seiten zur maximalen Schmöker-Langstrecke werden.

Dafür, sich daran zu wagen, und diesen Lese-Marathon zumindest mal in Angriff zu nehmen, spricht immerhin das höchst ambitionierte Vorhaben, ein langes und durchaus wohl auch exemplarisches Stück Geschichte anhand einer Familienerzählung in den Blick zu bekommen. Im Ganzen sind es wiederum fast 400 Jahre - 377, um genau zu sein - die Hahn den ihm wohl nicht ganz unähnlichen Helden zurückverfolgen lässt.

Sohn der „Jahrhundertfrau“

Verfolgen zurück vom Jahr 2015 - einem Zielpunkt, der sich zwar zufällig ergeben haben mag, von dem sich freilich ahnen lässt, dass diese Jahreszahl in größerer Rückschau, sprich in fernerer Zukunft mal zu den wirklich einschneidenden Geschichtsdaten aufgerückt sein dürfte.

Worum geht’s also? Um die Odyssee einer Familie, die es vom Osten in den Westen und dann - nach Trennung der Eltern und familiärem Zerfall - wieder in den Osten getrieben hat.

Der Held namens Meinhardt (fast wie Reinhardt) Dehm - der, dem der Leser zu lauschen hat - beginnt nach dem Tod der Mutter, um die - als „Jahrhundertfrau“ - sich hier vieles dreht, die Familiengeschichte zu recherchieren: Wohl auch, weil er spürt, dass eine solche schließlich weit zurückführende Zeitreise, ein solcher Marathon, ein so sicherer wie notwendiger Weg sein wird, um schließlich näher zu sich selbst zu kommen.

„Ich bin nach dem Krieg und vor der Sintflut geboren“

Und um eine Zeit vielleicht doch noch zu verstehen, die mit ihren teils erschreckenden und teils fast schon absurden Wendungen auch in einer an derlei Dramatik nicht armen Historie ihresgleichen suchen dürfte. „Ich bin nach dem Krieg und vor der Sintflut geboren“, lässt Reinhardt O. Hahn dann auch seinen Helden Meinhardt sagen: Es scheint ein Schlüsselsatz zu sein, in dem Erlebtes und Vorausgeahntes wohl gleichermaßen mitschwingen.

Derlei Ahnungen freilich brauchen Substanz und Vergleichbarkeiten, die sich der Weitblickende im Grunde nur im Weiterdenken dessen erschließen kann, was er aus Rückschauen in teilweise graueste Vorzeiten erfahren und erfühlt hat. Episodenweise geht es also - wie es bei Thomas Mann heißen würde - tief hinunter in den „Brunnen der Vergangenheit“: Bei Hahn ist der Ruppiner Stadtbrand von 1787 eine solche Tiefe, bis zu der er lotet, ja sogar noch 150 Jahre weiter zurück und tiefer, bis zum Dreißigjährigen Krieg, um dann sein Riesenwerk mit näher fassbaren Rückblenden auf die erste deutsche Nachkriegszeit zu beginnen.

Erzählt wird die Geschichte einer Familie

Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die vom aufkommenden Rassenwahn der Nazis betroffen war. Von einem Vater, der versuchte, die Spur der jüdischen Herkunft seiner Frau (und Frau seiner Kinder) mit Blick auf die mörderischen Nürnberger Rassegesetze zu verwischen.

„Das letzte erste Glas“ schlug seinerzeit ein wie eine Bombe. Der hallesche Mitteldeutsche Verlag und sein Autor Reinhardt O. Hahn hatten einst die großen gesellschaftlichen Probleme der späten DDR in einem Roman zur Sprache gebracht, der zugleich eine Art Lebensbeichte seines Autors enthielt: die Geschichte seines früheren Alkoholismus’. Doch zugleich war es die Geschichte eines immerhin möglichen Besiegens dieser Sucht: Dem Autor jedenfalls gelingt es seit nun schon 37 Jahren, sich von jeglichem Alkohol fernzuhalten. Erfolg hatte Hahn übrigens auch mit dem erstmals 1982 erschienenen Buch zum Thema, das dann im Handumdrehen zu einem Bestseller wurde - aber nicht nur. In 2.000 Lesungen aus diesem Buch habe er, heißt es, mehr als 80.000 Hörer erreicht.

Was er dabei erlebte und zu welch dramatischen, ja tragischen Verstrickungen - auch in eigene Schuld - das führte, ist auf 350 Seiten zu lesen. „Was soll mir eure Schuld“ lautet der Titel des ersten Bandes, erzählt auch aus der Sicht eines Jungen, der aufgehäufte Schuld jener Zeit vor und im Zweiten Weltkriegs, die ja noch gar nicht die seine gewesen sein konnte, mit einer sehr schweren Jugend büßen zu müssen schien.

Familie zwischen Ost und West

Und mit einem Hin- und Hergerissensein seiner Familie zwischen Ost und West - zwischen Orten, an denen man teils nicht bleiben konnte und teils nicht bleiben wollte. Bis zu dem Punkt, als die große Geschichte Fakten schuf, die zumindest im Osten festlegten, wo allein man nur bleiben durfte. „Ein gewöhnliches Bauwerk“ heißt Roman Nummer zwei rund um den Bau der innerdeutschen Grenze mit der innerberliner Mauer als deren furchtbarem Symbol.

„Die Zukunft war unser Land“ heißt schließlich der dritte Band der Geschichte, in der der Autor seinen Helden die DDR als ein „Tollhaus aus Wünschen und Illusionen“ erleben lässt. Ähnlich wie er selber sie erlebt - teils auch erlitten, aber teils wohl auch genossen hat. „Die Zukunft war unser Land“ lautet dann auch der Titel von Band drei, der - passend zum bevorstehenden Mauerfall-Jubiläum - die DDR als Land des ewigen Konjunktivs und der verpassten Gelegenheiten ebenso wie deren fast märchenhaft-glückliches Ende mittels fast spurlosem Verschwinden exemplarisch in Erinnerung ruft.

Heilsame Nüchternheit

Ebenso wie dann der letzte Band namens „Das Paradies im Irrenhaus“ die Verwicklungen der Zeit seit der Einheit ins Gedächtnis bringt - samt einer Unternehmensgründung des Helden und samt anderen Hoffnungen mit teils schier unausbleiblichem Scheitern als Folge. Die große Erzählung beschließt dann die Beerdigung der „großen Mutter“ und Jahrhundertfrau, die wohl auch eine Reihe von weit über sie hinausgehende, hochfliegende, Hoffnungen endgültig mit ins Grab zu nehmen scheint.

Warum dergleichen erzählen? Vielleicht der Lehren wegen, die aus Geschichte insgesamt und aus Geschichten wie den von Reinhardt O. Hahn erzählten zu ziehen wären - und aus seiner eigenen schon ganz und gar: „Die Nüchternheit im Verstand ist das einzig Wahre und Heilsame“, sagt der Autor - und scheint damit dreierlei zu meinen: Das Große und Ganze der Zeit, in der er lebt, und der er jene Nüchternheit und Klarsicht wünscht, zu der er selbst sich in dramatischen Zeiten hat vorkämpfen müssen.

››Die Buchpremiere findet Mittwoch, 25. September, 18 Uhr, in der Stadtmission am Weidenplan statt. (mz)