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  7. Bildung in Halle: Wandel der Mädchenschulen gibt Einblick in die Stadtgeschichte

Stadtgeschichte Bildung war in Halle nicht immer für alle zugänglich

Serie zur Stadtgeschichte, Teil 19: Lange durften nur Jungen zum Gymnasium und studieren. Mit der Gründung der ersten Mädchenschule 1793 begann der Wandel in Halle.

Von Walter Zöller Aktualisiert: 12.12.2023, 14:34
Die Lehrerin Anna Schubring (hinten rechts) mit Mädchen des Emma-Seydlitz-Lyzeums.
Die Lehrerin Anna Schubring (hinten rechts) mit Mädchen des Emma-Seydlitz-Lyzeums. (Foto: Stadtarchiv)

Halle (Saale)/MZ. - Die Weidenplanschule am Universitätsring 21 ist ein fester Bestandteil in der hallischen Bildungslandschaft. Dort werden unter anderem angehende Friseure, Gesundheitskaufleute und Zahntechniker ausgebildet; im Berufsvorbereitungsjahr stehen auch Sprachen, Textiltechnik oder Körperpflege auf dem Stundenplan. In der Weidenplanschule ist indes auch ein Stück Stadtgeschichte geschrieben worden: In dem Neubau wurde 1884 die erste „Höhere städtische Mädchenschule“ eröffnet. 1910 konnten Mädchen in dem städtischen Lyzeum erstmals einen Abschluss erwerben, der ihnen ein Universitätsstudium ermöglichte.

Doktortitel war eine Ausnahme

Es war das Ende eines langen Ringens, um Mädchen - meist aus gehobenen Kreisen - eine bessere Ausbildung und jungen Frauen anschließend den Zugang zur Universität zu ermöglichen. Ein Ringen, das in Halle mehr als 100 Jahre dauerte. Dass Dorothea Christiane Erxleben schon 1754 an der Universität Halle-Wittenberg als erste Frau in Deutschland ihren medizinischen Doktortitel erlangte, wird heute zu Recht hervorgehoben, war aber damals eine absolute Ausnahme. Die großen Widerstände gegen ein Frauenstudium bröckelten erst nach und nach.

Die Historikerin Katrin Moeller ist tief verwurzelt mit der Geschichte Halles und der Region. Sie leitet das Historische Datenzentrum Sachsen-Anhalt am Institut für Geschichte der Uni Halle und arbeitet ehrenamtlich unter anderem im Vorstand des „Vereins für hallische Stadtgeschichte“ mit. Vor annähernd zehn Jahren ist sie quasi auf Umwegen auf die Anfänge der Mädchenschulen in Halle gestoßen. „Ich habe mich mit den Mitgliedern der ersten Singakademie in Halle beschäftigt, Anlass war 2014 die Feier zu ihrer Gründung vor 200 Jahren“, sagt sie. Sie habe wissen wollen, was das für Leute waren, „die ein solch innovatives Projekt mitmachten“.

Das Lehrerinnenkollegium des späteren Seydlitz-Lyzeums um die Schulgründerin Agnes Stange, das Bild entstand um 1890.
Das Lehrerinnenkollegium des späteren Seydlitz-Lyzeums um die Schulgründerin Agnes Stange, das Bild entstand um 1890.
(Foto: Stadtarchiv Halle)

Die Robert-Franz-Singakademie ist heute eine der ältesten Singakademien in Deutschland. „Es handelte sich 1814 um die erste Vereinsgründung in Halle. Singen in der Öffentlichkeit war bis dahin nicht so verbreitet“, erläutert die Historikerin. Die Mitglieder hätten unter anderem für Verwundete und Waisen aus dem Befreiungskrieg gesungen. „Es war ein revolutionärer Verein, weil auch Mädchen in der Öffentlichkeit mitsingen durften.“

Bei ihren Recherchen stellte Moeller fest, dass zur Singakademie viele Mitglieder zählten, die gleichzeitig in der Mädchenbildung aktiv waren. „Dazu gehörte Johann Daniel Dessmann (1762-1846), ein Reformierter aus Halle, der auch als Prediger wirkte. Er hat 1793 die Mädchenschule für höhere Töchter in Halle gegründet.“

Dessmann war zwar nicht der Erste, der eine solche Schule aufbaute - er war aber der erste, der langfristigen Erfolg damit hatte. Zuvor gab es ähnliche Bestrebungen in den Franckeschen Stiftungen. „Die dortige Mädchenschule lief ein paar Jahr, wurde dann aber wieder eingestellt, weil gesellschaftlich noch nicht akzeptiert war, dass Töchter aus dem Adel oder aus höheren bürgerlichen Kreisen auch eine weiterführende Schulbildung bräuchten“, sagt Katrin Moeller. Mit den Bestrebungen in den Franckeschen Stiftungen und der Gründung der ersten Mädchenschule 1793 für höhere Töchter habe Halle in Deutschland weit vorne gelegen.

Die Karte zeigt das Seydlitz-Lyzeum. Das Schulhaus wurde  1901 eingeweiht.
Die Karte zeigt das Seydlitz-Lyzeum. Das Schulhaus wurde 1901 eingeweiht.
(Foto: Stadtarchiv)

Dessmanns Schule hatte ein durchaus revolutionäres Konzept, wie die Historikerin betont. „Aufgebaut werden sollte eine konfessionell übergreifende Schule ohne Religionsunterricht.“ Stattdessen habe man einen Ethikunterricht eingeführt, Mädchen aus allen Konfessionen sollten Zugang haben. „Ziel war es tendenziell, den Mädchen im Vergleich zu den Jungen eine gleichwertigere Bildung anzubieten, aber der Weg bis zur Reifeprüfung war lang.“ Die Eltern hätten großen Einfluss auf das Geschehen in der Schule gehabt. „Es handelte sich, wenn man so will, um die erste Schule, die auf eine Elterninitiative zurückging.“

Einladung für Mädchenschule richtete sich an wohlhabende Elternhäuser

Wie viele Eltern, die ihre Töchter in die Schule schickten, stammte auch Dessmann aus einer bildungsbürgerlichen Schicht im Umfeld von Universität und Franckeschen Stiftungen. Er hatte an der lateinischen Hauptschule des Waisenhauses unterrichtet, sich an höheren Töchterschulen in Berlin weitergebildet, war Kantor der reformierten Dom-Gemeinde. Die Einladung an seine Mädchenschule richtete er explizit an wohlhabende Elternhäuser, wie Katrin Moeller in einem Beitrag für eine Publikation des Stadtgeschichtsverein erläutert hat. Unterrichtet wurden vielfach Töchter von Professoren und Dozenten wie Emilie Auguste Reil oder Pauline Meckel. Auch Amalie Krüger besuchte die höhere Töchterschule von Dessmann, sie wurde später die erste Kindergärtnerin in Deutschland. Ihr Vater war Inhaber einer Zuckerfabrik.

Die Gründung von Mädchenschulen war lange Zeit noch ein gesellschaftliches Wagnis, auch wenn Dessmanns Schule am Anfang „ein wenig unter dem Radar der Obrigkeit“ gelaufen sei, wie es Katrin Moeller formuliert. Das habe sich in den 1820er- und 1830er- Jahren geändert, als der Schulbetrieb von der Schulbehörde stärker kontrolliert und reglementiert worden sei. „Die Schule musste sich anpassen. Sie führte unter anderem den Religionsunterricht wieder ein und schraubte das Bildungsprogramm zurück.“

Dessmanns höhere Töchterschule unterschied sich von anderen privaten Mädchenschulen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts in Halle entstanden. In der Dessmannschen Einrichtung arbeiteten fast ausschließlich akademisch ausgebildete Männer. Das lag auch daran, dass Frauen keinen Zugang zu Universitäten hatten. Der Fächerkanon war breit angelegt. Dazu zählten Rechnen, Physik und Technologie, aber auch Geschichte sowie Gesundheitslehre und Englisch als zweite Fremdsprache.

Sprachen als Schwerpunkt

Dieses Profil unterschied sich stark von anderen Schulgründungen. So bot die von Agnes Stange 1868 aufgebaute höhere Töchterschule - aus der später das Emma-Seydlitz-Lyzeum wurde - vorwiegend Frauen eine Anstellung als Lehrkraft. Eher wissenschaftliche Themen seien im Unterricht weitgehend ausgeblendet worden, erläutert Historikerin Moeller. Stattdessen habe das Schwergewicht auf Sprachen, künstlerische Fächer, Religion und auch Handarbeit gelegen. Diese sei auch deshalb zur „typisch weiblichen Domäne“ geworden, weil sie von Frauen ohne universitäre Ausbildung unterrichtet werden konnte.

Dessmanns Mädchenschule für höhere Töchter bestand trotz mancher Widrigkeiten das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Sie sei im Gegensatz zu anderen Schulversuchen in dieser Zeit nicht gescheitert, sagt Katrin Moeller, auch weil deren Protagonisten aus der Mitte der Bildungsgesellschaft stammten und dort immer geblieben seien. Man habe den gesellschaftlichen Kompromiss und nach Wegen einer langsamen Veränderung gesucht. „Es ist die Schule, aus der in Halle später das erste städtische Lyzeum hervorging.“