Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse: "Ich war Hitlers letzter Versuch"

Eisleben - Es gibt immer weniger Menschen, die den 2. Weltkrieg aus eigenem Erleben als Soldat kennen. Lothar Lauterbach aus Eisleben ist einer von ihnen. Als 15-jähriger Bengel wurde er im März 1945 gemustert und - obwohl er nur auf einem Auge sehen kann - für tauglich befunden, in einer Reichsarbeitsdienst-Flakeinheit mit Waffen in der Hand für das Dritte Reich zu sterben. So, wie viele andere ganz junge und auch alte Männer.
„Ich war sozusagen Hitlers letzter Versuch“, sagt der heute 85-Jährige. „Wir sollten den Ring um Berlin sprengen.“ Ein ebenso sinnloses wie mörderisches Unterfangen im April 1945, als bereits klar war, dass der Krieg für Deutschland verloren ist.
Der Front entkommen, sich zu verstecken, kam für Lauterbach, der aus Osterhausen stammt und gerade in Eisleben den Beruf eines orthopädischen Schuhmachers erlernte, nicht in Frage. „Ich konnte vor der Einberufung doch nicht einfach weglaufen“, sagt er. „Dann hätten sie meine Eltern erschossen. Damals gab es doch die Sippenhaft.“
Das ist lange her. Für die heute 15-Jährigen ist der Krieg etwas, was sich im vergangenen Jahrtausend ereignete. Eine Ewigkeit her also. Das Gedächtnis von Lauterbach behält aber alles von damals, als wäre es erst gestern gewesen. Wie die Volkssturmleute bei Prettin an der Elbe zwischen Wittenberg und Torgau angekommen sind. Wie sie sich am östlichen Elbufer einbuddelten, um die anrückenden Amerikaner zu stoppen. Und wie sie Hals über Kopf zum anderen Ufer wechseln und sich dort wieder eingraben mussten, als es hieß: „Von der anderen Seite kommen die Russen!“
„Stell dir vor: Die haben die Brücke gesprengt, während sich darauf noch Flüchtlinge befanden..."
Schreckliche Bilder von damals wird er bis zu seinem Lebensende nicht vergessen. Jene Pontonbrücke über die Elbe zum Beispiel, über die auch Flüchtlinge aus dem Osten über den Fluss kamen und die von den Deutschen eiligst in die Luft gejagt wurde, um die Sowjettruppen aufzuhalten. „Stell dir vor: Die haben die Brücke gesprengt, während sich darauf noch Flüchtlinge befanden. Wie die Menschen geschrien haben ...“, sagt Lauterbach und ist für ein paar Sekunden außerstande, weiter zu sprechen.
Er hört noch den Granatenbeschuss, bei dem ein gleichaltriger Kamerad neben ihm getötet wurde: „Eben lag er noch da. Dann sah ich an dieser Stelle plötzlich ein Loch und nichts mehr.“ Lothar Lauterbach versagt die Stimme, er kann seine Tränen nicht aufhalten. Tief eingebrannt hat sich das Erlebte in seinem Kopf. Die eigene Angst. Die Verwundung durch einen Granatensplitter. Die SS-Leute, die aufpassten, dass keiner vom Volksturm vor dem Feind türmt und die selbst schleunigst verschwanden, als es brenzlig wurde.
Die Reihen der Zeitzeugen, die den 2. Weltkrieg aus eigenem Erleben kennen, werden immer dünner. Schließlich sind nach der Niederlage des Nazi-Deutschlands 70 Jahre vergangen. Umso wertvoller sind Erinnerungen, die uns den Nachkommen helfen, die Vergangenheit besser kennenzulernen. Das ist wichtig, „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, sagte einmal der US-Philosoph und Schriftsteller George Santayana.
Wer eigene Erlebnisse aus der damaligen Zeit oder die seiner Eltern und Großeltern schildern möchte, ist bei der MZ willkommen. Schreiben Sie uns oder rufen Sie an - per E-Mail: [email protected], telefonisch unter 0 34 75/ 61 46 10. (wkl)
Am 29. April 1945 kam Lothar Lauterbach bei Düben in die US-amerikanische Gefangenschaft. Der Krieg war für ihn nach sechs Wochen zu Ende. Nicht aber die Entbehrungen. Mit den Gefangenen gingen die US-Militärs nicht zimperlich um. „Manchmal haben sie wahllos ins Lager hinein geschossen“, erinnert sich Lauterbach. Er landete schließlich im riesigen Kriegsgefangenenlager Remagen-Sinzig: Acker, Stacheldraht und keine Unterkünfte. „Wir haben uns Erdlöcher buddeln müssen“, sagt Lauterbach. „Zu Pfingsten hat es tagelang geregnet, wir lagen im Schlamm. Es gab kaum etwas zu essen. Viele starben.“ In dem Lager wurde Lothar am 3. Juni 1945 16 Jahre alt. Er schenkte sich ein Geburtstagsessen: ein am Vortag aufgespartes Stückchen Brot.
„Trotz allem habe ich eigentlich Glück gehabt“, sagt Lothar Lauterbach nachdenklich. Dass er an der Front nicht gefallen ist. Dass er im Gegensatz zu vielen Kameraden das US-Lager überlebte. Dass er nach vier Wochen durch eine List aus dem Lager nach Hause gehen durfte. Als Heimatort gab er nämlich Osterhausen, angeblich in Thüringen gelegen, an. Nach Thüringen durften die Gefangenen entlassen werden, ins Mansfelder Land noch nicht. Ein Kamerad von ihm musste deshalb bis Weihnachten in der Gefangenschaft bleiben.
Rückkehr nach Eisleben
Glück im Unglück hatte Lauterbach auch nach der Rückkehr in Eisleben, als er 1949 an Lungenschwindsucht erkrankte und in ein Lazarett kam. „Von den 60 Patienten sind neun gestorben und ich musste der Schwester helfen, die Leichen hinauszutragen“, so Lauterbach. Er selbst überlebte, auch wenn er erst 1967 die Krankheit endgültig besiegte.
Der Rest ist kurz erzählt. Mit 30 heiratete Lauterbach, er hat eine Tochter und keine Enkel. Da er wegen des Krieges und der Krankheit nicht lange arbeiten konnte, bekommt er nur eine kleine Rente. Die Liebe zur Natur und seine Hobbys - Lothar Lauterbach fertigt Miniaturen und Schmuck aus Naturmaterialien wie etwa Nussschalen und Holz an, er sammelt Autogramme - halten ihn froh und fit. In Sachen Natur ist der Eisleber oft in Kitas zu Gast, regelmäßig führt er thematische Wanderungen an, zum Beispiel in die einheimische Kräuterwelt. Lauterbach lacht und scherzt gern.
Nur beim Thema „Krieg“ wird er stets traurig. Und das nicht nur deshalb, weil er selbst betroffen war. Neue Kriege der Gegenwart, die viele Menschenleben kosten, machen ihm Sorgen. „Die Leute haben nichts gelernt“, stellt er bitter fest. Und hofft deshalb, dass seine Erinnerungen manchen Jugendlichen erreichen, für den der Weltkrieg so unendlich weit zurückliegt.
