Zu Gast bei einer 100-Jährigen in Ziegelrode Die Flucht aus der Heimat in Polen war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben
Als Gertrud Kunze geboren wurde, gab es weder fließend Wasser noch Fernseher, Autos waren eine Seltenheit . Die 100 Jahre alte Frau, die mit ihrer Familie in Ziegelrode lebt, berichtet aus ihrem Leben.

Ziegelrode/MZ - Als Gertrud Kunze geboren wurde, gab es weder fließend Wasser noch Fernseher, Autos waren eine Seltenheit und an Handys war erst recht nicht zu denken. Doch auch diese Zeiten waren schön, wie Gertrud Kunze beim Blick auf ihre 100 Lebensjahre feststellen durfte.
Die Kindheit und Jugend verbrachte sie unbeschwert in Polen. Ihre Eltern hatten dort bei Krotoszyn einen großen Bauernhof, mit Schweinen, Kühen, Pferden, Hühnern, vielen Ländereien und gesprochen wurde in der Familie deutsch und in der Schule polnisch.

Doch diese unbeschwerte Zeit riss abrupt ab, denn von einem auf den anderen Tag mussten sie ihre Heimat gegen Ende des Zweiten Weltkrieg verlassen. Sie mussten fliehen. „Wir packten unseren Pferdeanhänger nur mit dem nötigsten Dingen“, kann sich die hundertjährige Ziegelröderin noch genau an den Monat Februar im Jahr 1945 erinnern. Gertrud Kunze war damals 19 Jahre alt und alles, was sie bis dato hatte, war weg. „Wir mussten alles zurücklassen, denn auf dem Pferdehänger war nur wenig Platz für Habseligkeiten“, erzählt sie über dieses einschneidende Erlebnis.
Tagelange Flucht bei Eiseskälte führte sie 1945 nach Ziegelrode
Die tagelange Flucht bei Eiseskälte und Schnee führte sie nach Ziegelrode, wo sie auch heute noch im Kreise ihrer Familie lebt. Sie und ihre Eltern kamen damals bei Familien unter. „Wir mussten von Null anfangen, waren arm, aber in Sicherheit“, beschrieb sie die damalige Situation.
Kartoffel stoppel und Ähren ernten zum Überleben
Als junge Frau arbeitete Kunze in der Landwirtschaft, stoppelte Kartoffeln und erntete Ähren. „Wir mussten ja von etwas leben“, erinnert sie sich an die ersten Jahre nach ihrer Ankunft in Ziegelrode. Später fand sie Arbeit auf dem Walzwerk in Hettstedt, was bedeute, dass sie jeden Morgen von Ziegelrode nach Helbra auf die Hütte zu Fuß ging, um von dort aus mit der Bergwerksbahn nach Hettstedt zu fahren. Sie lebte sich schnell ein in den Grunddörfern, knüpfte Kontakte und lernte ihren Mann, Otto Kunze, 1948 beim Pfingstfest im Ort kennen. „Wir sind in jungen Jahren viel tanzen gegangen oder besuchten das Kino“, erinnert sie sich gern an die Zeit zurück. Beide heirateten am 26. Mai 1951 und kurze Zeit später kam ihre Tochter zur Welt. Die Geburt des Sohnes machte ihre kleine Familie komplett.
Bis ins hohe Alter betrieb sie eine Sammelstelle für Propangasflaschen
Das Paar arbeitete sein ganzes Leben fleißig, wohnte auf dem Gutshof und konnte später einen ehemaligen Gasthof in Ziegelrode in ein gemütliches Heim um- und ausbauen. Sie betrieb als Erste eine Propangasflaschensammelstelle bis ins hohe Alter. Als Familie reisten sie gern, „doch meine alte Heimat Krotoszyn habe ich nie wieder gesehen. Ich war mental nicht in der Lage“, sagt die Seniorin.
Ihre beiden Kinder leben nah bei ihr
„Aber ich bin glücklich hier und vor allem, dass ich noch zu Hause wohnen kann“, sagt sie dankbar, denn Ihre Tochter Christa Constantin wohnt mit ihrem Mann ebenfalls in dem Haus und kümmert sich um sie. Auch der Sohn, Siegfried Kunze, der nur wenige Meter nebenan wohnt, besucht seine Mutter jeden Tag und macht täglich mit ihr zusammen kleine Spaziergänge. Selbst die Hauskatze Pinky ist immer mit von der Partie.
Zeitungsschau gehört zu ihrem Tagesablauf
Gertrud Kunzes Tagesablauf ist fest strukturiert. Morgens kommt der Pflegedienst, dann macht die 100-Jährige gemütlich Frühstück mit Zeitungsschau und nach dem Mittagsschlaf schaut sie die Nachrichten und ihre täglichen Fernsehserien. „Dass ich einmal hundert Jahre alt werde, hätte ich nie gedacht“, meint sie lachend. Ihre Kinder, Enkel und Urenkel organisierten ihr zu ihrem 100. Ehrentag eine Überraschungsparty mit Verwandten, Familie, Freunden und Nachbarn. „Es haben so viele an mich gedacht und mir gratuliert“, freute und bedankte sich Gertrud Kunze über die Aufmerksamkeit und das Meer von Blumen, das in ihrer Wohnung steht. Jetzt hat die Ziegelröderin nur noch einen Wunsch: „Möglichst lange agil zu bleiben“, sagt sie am Ende des Gespräches.