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Der Terrorist von nebenan Anschlag Halle Saale wie sich Stephan B in Helbra und Benndorf radikalisierte

Von Fabian Wagener 15.10.2019, 08:00
Der Attentäter von Halle schießt am vergangenen Mittwoch im Schutz seines Wagens um sich. In den Mittagsstunden tötete er zwei Menschen.
Der Attentäter von Halle schießt am vergangenen Mittwoch im Schutz seines Wagens um sich. In den Mittagsstunden tötete er zwei Menschen. ATV-Studio/AP

Helbra - Der Weg, der von Benndorf nach Helbra führt, ist am Anfang etwas abschüssig. Es geht zwischen Ahornbäumen hindurch, rechts die Straße, links ein Holzzaun. Dahinter: weites Feld. Am Horizont drehen sich die Windräder.

Stephan B. kennt den Weg gut. Er ist ihn öfters gegangen, erzählen die Leute. Den Blick verschlossen, die Bewegungen irgendwie steif. Einer sagt: fast wie ein Roboter.

Stephan B. erschoss in Halle zwei Menschen

Am vergangenen Mittwoch bringt Stephan B. den Terror nach Sachsen-Anhalt. Mit einem Leihwagen fährt der 27-Jährige zur Synagoge im Paulusviertel in Halle. Es ist Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, in dem Gotteshaus halten sich 51 Gläubige auf. Stephan B. will Juden töten. Er trägt Kampfmontur und Helm, hat ein ganzes Arsenal an selbstgebauten Waffen dabei. Er filmt mit einer Kamera, hetzt gegen Juden, Feminismus, Migration, überträgt das alles ins Netz. „Niemand rechnet mit der Internet-SS“, sagt er und lacht.

Stephan B. scheitert daran, in die Synagoge einzudringen, stattdessen erschießt er eine 40-jährige Fußgängerin vor der Synagoge und einen 20-jährigen Mann in einem Dönerimbiss. Nach seiner Festnahme gesteht er die Tat und räumt ein rechtsextremistisches, antisemitisches Motiv ein. Zudem taucht ein auf Englisch geschriebenes Manifest auf, in dem sich zahlreiche judenfeindliche Äußerungen finden. Hinweise auf Mittäter haben die Behörden bislang nicht.

Politologe: Tat von Stephan B. war nicht pathologisch

In seinem 2018 veröffentlichten Buch „Einsame Wölfe - Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“ befasst sich der Politologe Florian Hartleb mit Ideologie und Lebensumständen rechtsextremer Attentäter, die ihre Taten alleine und losgelöst von größeren Organisationseinheiten durchführen - darunter Anders Breivik, der 2011 in Norwegen mehr als 70 Menschen tötete. Hartleb schreibt: „Terroristen sind Menschen, keine Monster oder Roboter.“ Und weiter: „Plötzlich tauchen sie auf: die scheinbar gestörten Einzeltäter, die sich ein Denkmal setzen wollen, auch wenn es nur posthum ist.“

Was er damit sagen will: Wer sich ausschließlich auf mögliche psychische Beeinträchtigungen der Täter konzentriert, verkennt die ideologische Dimension ihres Tuns. Diese „Einsamen Wölfe“ handelten nicht pathologisch, sondern begründeten ihre Taten mit Pamphleten und Bekennerschreiben, Videos und Manifesten. Sie agierten „planhaft-gründlich“.

Auf Seiten der Öffentlichkeit setze hingegen erst einmal Sprachlosigkeit ein. „Ein psychologischer Trick besteht dann darin, den Akteur als Kranken und Fremden darzustellen. Zu schmerzhaft ist der Befund, dass der Terrorismus unter uns entsteht, im stillen Kämmerlein gedeiht und dann explosiv seine Wirkungskraft entfaltet - gegenüber unschuldigen Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind.“

Mitschüler über Stephan B.: „Er war kein Draufgänger“

Nach allem, was man bislang weiß, war Stephan B. ein „einsamer Wolf“. Geboren in Eisleben (Mansfeld-Südharz), aufgewachsen in Helbra, die Mutter Grundschullehrerin, der Vater Rundfunktechniker. Irgendwann trennen sich die Eltern, die Mutter zieht mit dem Sohn nach Benndorf. Stephan B. spielt eine Zeit lang im Schachverein und besucht das Luthergymnasium in Eisleben.

Im MZ-Archiv findet sich ein Foto aus dem Jahre 2009, das B. während eines Schulprojekts über Weichtiere zeigt. Interessiert schaut er auf ein paar Schnecken, die auf einem Tisch kriechen. Ehemalige Klassenkameraden beschreiben ihn als einen durchschnittlichen Schüler, als freundlich und unscheinbar. Nicht der klassische Außenseiter, aber doch eher zurückhaltend. „Er war kein Draufgänger“, sagt eine Mitschülerin der MZ.

Nach dem Abitur geht Stephan B. zur Bundeswehr, absolviert dort seinen Wehrdienst, lernt den Umgang mit Waffen. Später studiert er wenige Semester Chemie, bricht das Studium jedoch aus gesundheitlichen Gründen ab. Gegenüber Reportern von Spiegel TV erwähnt die Mutter eine Operation aufgrund eines Blutgerinnsels. Zudem habe ihr Sohn mit Drogen experimentiert und sich dadurch verändert. Er habe in einem Zimmer gelebt, dessen Tür stets verschlossen gewesen sei. Er sagte Dinge wie: „Der weiße Mann zählt nichts mehr.“

Stephan B. radikalisierte sich vor allem online

Stephan B. taucht offenbar mehr und mehr in die Tiefen des Internets ab. Es sind wohl nicht zuletzt sogenannte Imageboards, die Stephan B. eine virtuelle Heimat bieten. In diesen Diskussionsforen werden Bilder gepostet oder kurze Filme, die Nutzer kommunizieren anonym. Sie nennen sich daher auch Anons - so wie Stephan B. „Hey, mein Name ist Anon, und ich denke, der Holocaust ist nie geschehen“, sagt er in dem Video.

Der 27-Jährige soll nach Recherchen von Zeit-Online noch kurz vor der Tat auf einem Imageboard gepostet haben, es finden sich Bezüge zur US-amerikanischen, rechsextremistischen und antisemitischen Alt-Right-Bewegung. Auf einem Selfie trägt er demnach eine Bundeswehrfeldmütze, auf der ein Logo weißer Rassisten befestigt ist.

Er soll seine Attacke seit längerem geplant haben, mindestens seit Mai an seinen Waffen gearbeitet und dass Attentat von Christchurch als Vorbild genannt haben. Bei dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt im März 2019 hatte ein Australier 51 Menschen getötet und seine Tat live im Internet übertragen. Generalbundesanwalt Peter Frank sagte, dass Stephan B. vergangene Taten nachahmen und zu weiteren habe anstiften wollen. Er sei ein Mensch, der tief durchdrungen sei von Fremdenhass und Antisemitismus.

Niemand in Benndorf und Helbra will Stephan B. gut kennen

Wer in diesen Tagen in Benndorf und im nahe gelegenen Helbra recherchiert, bekommt das Bild eines zurückgezogenen Mannes bestätigt. Niemand scheint Stephan B. wirklich zu kennen. Nicht in den Vereinen, nicht in der Feuerwehr, nicht in der Nachbarschaft. Auch in der Kneipe in Benndorf heißt es: nein, kein Begriff. Der Besitzer will gar nichts sagen.

Steffen Horlbog, der in Helbra die Bar „Nachtschicht“ betreibt, ist da schon zugänglicher. Es ist der Freitagabend nach der Tat, Horlbog ist frisch aus dem Urlaub zurück. Am Donnerstag, erzählt er, war die Kneipe rappelvoll, an diesem Freitag ist noch etwas weniger los. Ein paar Leute sitzen am Tresen, im Raum hinten unterhalten sich zwei junge Frauen. Horlbog zapft ein Bier, er macht das hier schon viele Jahre. Wenn einer die Leute kennt, so sagen es Helbraer, dann er.

Aber den Attentäter? Da muss auch er passen. „Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen.“ Auch die Gäste schütteln den Kopf. Die Mutter, die Lehrerin, die kenne man. Aber den Sohn? Fehlanzeige. Es wirkt nicht so, als wollten die Menschen etwas verdrängen, etwas Unbequemes wegdrücken. Es wirkt, als sei Stephan B. für sie tatsächlich ein unbekannter Mensch.

Politologe Hartleb legt in seinem Werk Wert auf eine Klarstellung: „Einsame Wölfe“ sind nur insofern Einzeltäter, als dass sie ihre Taten alleine durchführen. Sie operieren freilich nicht in einem Vakuum. Sie finden Inspiration bei anderen Attentätern und bestimmten Ideologien, ihre Taten können Folge von Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten sein. „Einsame Wölfe sind Teil eines globalisierten Rechtsterrorismus, eines virtuellen Netzwerks, in dem potenzielle Täter miteinander verbunden sind.“

Stephan B. entwickelte eine Ideologie des Hasses

Laut Hartleb lassen sich bei vielen Tätern signifikante Gemeinsamkeiten finden: Emphatielosigkeit, Narzissmus, gestörte Frauenbilder, psychische Probleme, Persönlichkeitsstörungen. Sie sind sozial oft gescheitert, nehmen am gemeinschaftlichen Leben kaum Teil, sind nicht in Vereinen oder Verbänden aktiv, dafür viel im Internet. Dazu komme ein weiterer Faktor, der letztlich tatauslösend wirke: die „Ideologie des Hasses“, wie Hartleb es nennt.

„Persönliche Frustrationen und Kränkungen ergeben zusammengerührt mit politischen Einstellungen einen tödlichen Cocktail.“ Das rechtsextremistische Ideengebäude verfange, unter Einschluss von Verschwörungstheorien, schreibt Hartleb. Und an anderer Stelle mahnt er: „Es ist höchste Zeit, die Gewaltexzesse von Einzeltätern als akute Bedrohung wahrzunehmen und zu erkennen.“ (mz)