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Wo Schritt für Schritt aus Luftmaschen Kunst wird

Von SILVIA BÜRKMANN 16.03.2010, 21:26

DESSAU/MZ. - Er ist schlichtweg Kunst. Und die Abschlussarbeit im Studium Textilgestaltung, Fach Weben. Absolventin am Bezirkskabinett Suhl im Jahr 1975: Hannelore Becker.

Die heute 72-jährige hält und hegt den gemusterten Teppich in allen denkbaren Braun-Tönen in allen Ehren. Aber er ist im Haus in der Knarrberg-Siedlung nur ein winziges Detail aus einem halben Jahrhundert aktiver Arbeit der Textilgestalterin. Der Umgang mit Nadel, Faden, Stoff und Wolle war der hellwachen Frau mit dem brünetten Haarschopf fast schon in die Wiege gelegt, dort unten im südlichen Thüringen.

Die Lehrjahre als Bankkauffrau tauchen nur fragmentarisch und der Ordnung halber im Lebenslauf auf. Nach der Hochzeit 1957 mit Gerhard Becker und dem Umzug in die Stadt an Elbe und Mulde beginnt für Hannelore ein neues Leben. Zuerst als jüngster Neuzugang in dem späteren Vier-Generationenhaus in der Knarrbergsiedlung, dann als Mutter der drei Söhne Matthias, Stephan und Martin, die sich in gebührendem Abstand 1958, 1961 und 1966 einstellen. Die nimmermüden Hände und Finger finden im Kopf ihre Entsprechung. Und führen Hannelore Becker im Zuge des "Bitterfelder Weges" im Volkskunstschaffen der DDR in den 60er Jahren zuerst auf die Volkshochschulbank, dann in verschiedene Zirkel und schließlich zum Studium der künstlerischen Textilgestaltung. Hannelore Becker pendelt zwischen Seeburg, Köthen und Halle zu den Seminaren und Vorlesungen und gründet in der Heimatstadt ein weit verzweigtes Netz der Zirkelarbeit. Partner findet die frei schaffende Textilgestalterin vor allem in den Großbetrieben, wie ZAB, Gärungschemie oder Waggonbau, die für ihre Werktätigen nicht nur einen "Kultur-und Sozialplan" bereithalten, sondern den Zirkeln auch ihre Klub- oder Kulturhäuser für die Arbeit öffnen.

"Und was haben wir nicht alles gemacht, entworfen und hergestellt", schüttelt Hannelore Becker lächelnd den Kopf. Und sagt im Brustton der Überzeugung: Textilgestaltung ist ebenso filigrane Handarbeit wie Kunst; heißt Gestalten mit Fäden, mit Stoffen und Farben "und ist ungeheuer vielfältig. Heimtextilien oder Mode - Textilgestaltung ist eigentliches einfach alles."

"Einfach alles" lernten in den Hoch-Zeiten Frauen in den 26 Zirkeln in Dessau, die Hannelore Becker betreute. Auf Ausstellungen oder Modenschauen im Kristallpalast präsentierten die Frauen ihre an langen Tagen entworfenen und geschaffenen Stücke. Nichts "abgekupfert", alles geschaffen im eigenen Kopf und mit eigenen Händen.

"1990 war auf einen Schlag alles Sense", fuhr Hannelore Becker der Schreck in die Glieder, als plötzlich vor den Klubhäusern die Räum-Container standen. Mietforderungen wurden laut. Unterschlupf bot eine Zeit lang ein Atelier über der Stadtschwimmhalle, dann fielen auch hier die Türen ins Schloss.

"Leute, wie ist's? Wollen wir uns weiter treffen? Ich habe eine große Küche zu Hause. Wollt ihr herkommen?" Und so ist seit 1992 Beckers Küche in der Brunnenstraße Treffpunkt für das verbliebene "Fähnlein der Aufrechten". Aller zwei Wochen kommen acht bis neun Frauen her. Mit ihrem Handwerkszeug, mit ihren Stoffen. Und vor allem mit ihren Fragen. "Wie krieg' ich eine Perlenapplikation auf den Pullover?" Es war immer ein geflügeltes Wort. Und es ist es geblieben: "Frag' doch Frau Becker."