Weill-Fest Weill-Fest: Ein Haufen Sinnlichkeit

dessau/MZ - Die Show war vorbei und draußen, vor dem Alten Theater, suchte man unwillkürlich nach einem Siebeneinhalbtonner. Der war nach menschlichem Ermessen mindestens nötig, um all die Röcke, Korsagen, Netzstrümpfe und Glitzer-BHs, die an diesem Abend an- und vor allem ausgezogen worden waren, zu fassen. Man musste auch kein Prophet sein für die Vermutung, dass die Trägerinnen der exquisiten Garderobe sich bis tief in die Nacht hinein dem Sortieren von Fächern, Netzstrümpfen, Schleiern und Pasties widmeten.
Häppchen an der Bar
Eigentlich musste das alles die Zuschauer aber gar nicht kümmern, denn sie waren zu dem Theater auf und nicht hinter der Bühne gekommen. „Nichts als ein Haufen Sinnlichkeit“ war keine übertriebene Versprechung für drei Stunden mit den vier „Lipsi Lillies“ aus Leipzig, die sich unter Aufsicht von Conferencier Bert Callenbach, der drallen Mitzi und Damian Omansen am Klavier durch Kurt Weills Lebensstationen tanzten und spielten. Darin enthalten: Zwei Pausen, die man bei Häppchen vorzugsweise an der Bar verbrachte.
„Weill goes Burlesque“ hätte der Samstagabend in gemeinsamer Verantwortung von Weill-Fest, Beatclub und Altem Theater auch heißen können: ein gefeierter und beklatschter Versuch, die vom Festivalpatron erfundenen Frauenfiguren – nicht selten Mitarbeitende im horizontalen Gewerbe – einmal wirklich anschaulich auf die Bühne zu bringen. „Burlesque“, das sind erotisch aufgeladene Tanz- und Gesangsnummern, die auf die amerikanischen Roaring Twenties zurückgehen und jetzt wieder ganz en vogue sind – spätestens seit Dita von Teese Deutschlands nächste Topmodels in diese Kunst des Retro-Striptease einführte. In durchaus kunstvoller Verbindung, zu Musik vom Band und Klavier, führte Bert Callenbach die Handlung vom „Cabaret“ zur Dreigroschenoper, vom „Hauptbahnhof von Paris“ zur „Next Whisky Bar“, von der Freiheitsstatue zu den „September Songs“. Wenn Callenbach und Pianist Domansen sich nicht gerade wie Politiker ins Wort fielen, war das stets unterhaltsam und eine durchaus berechtigte Hommage an den Weill der Kaschemmen, Bordelle und dunklen Gassen.
Abend wirft Fragen auf
Trotz Ironie und erotischer Finesse, Akrobatik, Tanzkunst und opulenter Ausstattung warf der Abend jedoch mit zunehmender Dauer Fragen auf: Ist es angemessen, wenn die sehr unterschiedlichen Songs „Schönheit von Soho“, „Youkali“ und „Speak Low“ durch eine stets ähnliche, ritualisierte Form der Entblätterung in Szene gesetzt werden? Und passt es zu Weills starken Frauenfiguren wie der Seeräuber-Jenny, wenn nur die Männer auf der Bühne reden und singen, während die Frauen fürs Lächeln, Tanzen und Ausziehen zuständig sind? So ist Burlesque, natürlich. Doch in Interviews haben die „Lipsi Lillies“ mit den herrlich verdrehten Künstlernamen Roxie Heart, Mirielle Tautou, Mama Ulita und Simone de Boudoir durchaus bewiesen, dass sie nicht nur etwas zu zeigen, sondern auch etwas zu sagen haben. Normalerweise treten die vier „Girls“, die mit ihren Beinen beinahe jeden Winkel zu konstruieren vermögen, übrigens im Leipziger Central Kabarett auf.
Meisterinnen der Verwandlung und der Ausstattung sind sie, ob als Can-Can-Häschen, Cheerleader oder Freiheitsstatue: frivol durchaus, aber nie vulgär; zum Greifen nahe und doch unerreichbar. Zumindest „Mirielle Tautou“ kann man (laut Homepage) aber auch im ganz zivilen Arbeitsleben begegnen: Sie ist im Hauptberuf Physiotherapeutin.