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Stadtrundgang Stadtrundgang: Liebe auf den zweiten Blick

Von Heidi Thiemann 14.04.2002, 17:30

Zerbst/MZ. - "Zerbst ist eine Stadt der Liebe auf den zweiten Blick", lacht Viola Tiepelmann und merkt am Nicken ihrer Zuhörer, dass sie deren zweiten Blick geschärft hat.

Mit leuchtenden Augen sind die Frauen und Männer der Leiterin der städtischen Stadtinformation gefolgt. Über historisches Pflaster, durch enge Gassen, über den Wehrgang der Stadtmauer bis hinauf auf St. Trinitatis. 142 beschwerliche Stufen, an deren Ende die Mühe mit einem weiten Blick ins Land belohnt werden soll. Doch am Sonnabend ist die Luft Regen schwanger und steht dem weiten Blick entgegen. "Sie müssen also wiederkommen", befindet Tiepelmann mit einer weit ausholenden Bewegung. Und die Gäste der ersten öffentlichen Stadtführung in diesem Jahr geben ihr Recht und Applaus. Denn mehr als zwei Stunden lang ist ihnen die Stadt der Butterjungfer an Herz gelegt worden. Und zwei Stunden lang sind bei den meisten Erinnerungen geweckt worden.

So bei Gisela Stein aus Lübs und ihrer Schwester Anneliese Glusa, die aus dem US-Staat New Jersey zu Besuch ist. Als die Stadtführerin vor dem zerstörten Zerbster Schloss steht, in dem einst die spätere Katharina II. von Russland ihre Kinder- und Jugendjahre verbrachte, oder vor der Kirche St. Bartholomäi, deren leere Fensterbögen den Blick in den Himmel freigeben, müssen beide Frauen an den schwärzesten Tag von Zerbst denken. 13 und 15 Jahre alt waren sie damals, wohnten in der Stadt und erlebten das Bombardement am 16. April 1945 mit. Nur wenig vom historischen Zerbst ist erhalten geblieben. Doch das Wenige wird festgehalten. Im Rosenwinkel klicken die Fotoapparate. Und in Amerika wird gezeigt werden: "Schau, so schön ist Zerbst." Kleine Fachwerkbauten lehnen im Winkel aneinander. Früher gab es Dutzende davon.

Schöne Ecken, geschichtsträchtige Ecken zeigt Viola Tiepelmann auf der Tour und wird nicht müde im Geschichten erzählen. Dass die Straßen mit der "Brücke" im Namen alle über die Nuthe führen oder dass die Brüderstraße so heißt, weil früher hier die Klosterbrüder zum Markt gingen, wird später im Gedächtnis haften bleiben. "Manches", sagt Karin Rostel, "weiß oder sieht man gar nicht, obwohl man täglich hier entlang kommt." Als "alte" Zerbsterin staunte auch sie über ihre Stadt.

"Halt, halt! Wo sind die Kreuze?" An der Stadtmauer entlang führt der Weg zum Francisceum, und die beiden Schwestern halten Ausschau nach den Malen. "Da hinten sind sie", beruhigt Viola Tiepelmann und freut sich gleichzeitig über das Interesse. Die Steinkreuze, die der Sage nach an zwei Brüdern erinnern sollen, die einst das selbe Mädchen liebten und sich gegenseitig umbrachten. Und das dritte Kreuz ist dem Vater gewidmet, der aus Gram starb.

Jeder Stein scheint Geschichte zu erzählen. Und wen das interessiert, kann aller 14 Tage sonnabends den Rundgang durch Zerbst erleben. Im vergangenen Jahr, erinnert sich Viola Tiepelmann, war das Interesse groß, fiel nur eine Führung aus: "Da war''s zu heiß, 35 Grad im Schatten". Aber sonst? Zwischen fünf und 25 Leute nahm sie mit auf die Tour, die die Liebe auf den zweiten Blick weckt.