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Museum der Stadt Zerbst Museum der Stadt Zerbst: Noch gar nicht angefangen zu leben

Von Thomas Altmann 10.11.2002, 17:39

Zerbst/MZ. - Ein Verbrecher koste dem Deutschen Reich täglich 3,50 RM, während einer Arbeiterfamilie mit drei Kindern etwa der gleiche Tagessatz zur Verfügung stünde. Ein anderes "Schaubild" im Rechenbuch der faschistischen Volksschule thematisiert die gefährdete Leistungskraft des deutschen Volkes durch die "Vermehrung der Erbkranken und Minderwertigen". So erlernten die größeren Pimpfe in Nazi-Deutschland das Einmaleins des Rassenwahns. Wie es Kinder und Jugendlichen erging, die als "gemeinschaftsfremde Personen" galten, zeigt eine Ausstellung im Museum der Stadt Zerbst.

"Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben", ist die Ausstellung zu den Jugend-Konzentrationslagern Moringen und Uckermark überschrieben, die gestern Nachmittag im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten der Stadt Zerbst anlässlich der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 eine offizielle Würdigung erfuhr. Martin Guse hat über die sogenannten "polizeilichen Jugendschutzlager" gearbeitet, die bis in die 80er Jahre weitgehend unbeachtet blieben. Die von ihm mit zwei Düsseldorfer Grafikern erarbeitete Ausstellung wird vom "Miteinander e.V." in Zusammenarbeit mit der Stadt Zerbst präsentiert.

1939 erhob der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich die Forderung nach speziellen Lagern für "verwahrloste" Jugendliche. Ein erstes "Jugendschutzlager" für Jungen entstand 1940 in Morigen bei Göttingen. In der Nähe des Frauen-KZ Ravensbrück wurde 1942 ein weiteres Lager für Mädchen errichtet. Seinen Namen erhielt es vom Landschaftsgebiet Uckermark.

Die Ausstellung versammelt eine Vielzahl von Dokumenten und Fotografien, bereichert durch Tondokumente. Weil die vielen Texte nicht en passant gelesen werden können, gibt es alle, beinah vierzig Tafeln auch broschürt als "Ausstellung zum Mitnehmen".

Fünf Themenkreise liefern einen Überblick über die Gleichschaltung der Jugend im Nationalsozialismus, thematisieren die Errichtung der Lager, zeichnen biografische Skizzen der Häftlinge nach, beschrieben die Haftbedingungen und dokumentieren auch den peinlichen Prozess der Verdrängung danach.

Hier erfährt man etwa, dass die Kommandanten der Lager später leitende Beamte der Kriminalpolizei geworden seien. Dr. Robert Ritter, der für die "kriminalbiologische Selektion" verantwortlich war, also Zwangssterilisationen und Deportationen veranlasste, sei gar zum Leiter der Jugendpsychiatrie der Stadt Frankfurt am Main berufen worden.

Die "Jugendschutzlager", welche schon 1943 auf den Listen der Konzentrationslager des Reichssicherheitshauptamtes zu finden waren, wurden erst 1970 als solche anerkannt. Im Osten, wo man ausschließlich politisch motiviert den Opfern gedachte, lehnte man Opferrenten ab, und bezog sich dabei auf die willkürlichen Haftgründe der Nazis. Das Schema aber dürfte bekannt gewesen sein: Sonderurlaub für Mörder in Uniform und Androhung der Todesstrafe für Handtaschendiebe.

Etwa 3000 Kinder und Jugendliche waren inhaftiert. Eines richterlichen Urteils bedurfte es nicht. "Schutzhaftbefehle der Gestapo und Verwaltungsanweisungen der verschiedenen NS-Behörden" reichen aus. Viele Heime entledigten sich so ihrer unliebsamen, "erbgeschädigten" Zöglinge. Als Haftgründe galten ferner Landstreicherei, Entziehung von der Wehrpflicht oder Arbeitsbummelei und natürlich jegliche Form des Widerstandes.

Die junge Erna kam nach Uckermark, nachdem sie eine achtmonatige Gefängnisstrafe wegen "Geschlechtsverkehrs mit Ausländern" verbüßt hatte: Sie liebte einen Polen. Andere wurden wegen ihrer Leidenschaft zum Jazz kriminalisiert. Auch Günter Discher hörte lieber den großen Duke Ellington als Marschmusik: "Swingmusik hat mit Lebensart und mit Freiheit zu tun." - Feinde der Diktatur.

Ausstellung im Museum der Stadt Zerbst, bis zum 27. November, Dienstag - Freitag und Sonntag 10.00-12.00 und 14.00-16.00 Uhr