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Erinnerung an ein unfassbares Verbrechen Fünf Jahre nach Yangjie Lis Ermordung in Dessau

Vor fünf Jahren wird in Dessau die Studentin Yangjie Li vergewaltigt und ermordet. Die Täter: ein junges Paar. Rudolf Lückmann hat die Eltern der Chinesin begleitet. Was ihnen nach einer Zeit voller Verzweiflung neue Hoffnung gegeben hat.

Von Lisa Garn 13.05.2021, 06:00
Yili Lu und Rudolf Lückmann waren die Begleiter der Eltern von Yangjie Li - sie seien „durch die Hölle gegangen“. Aber auch dem Dessauer Paar verlangte diese Zeit viel ab.
Yili Lu und Rudolf Lückmann waren die Begleiter der Eltern von Yangjie Li - sie seien „durch die Hölle gegangen“. Aber auch dem Dessauer Paar verlangte diese Zeit viel ab. (Foto: Andreas Stedtler)

Dessau-Roßlau - Rudolf Lückmann sitzt in seinem Büro auf dem Hochschulgelände in Dessau und tastet sich vor. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe lange nicht mehr über das Thema gesprochen.“ Der Professor für Architektur ist groß gewachsen, 62 Jahre alt, schmal. Sein Besprechungszimmer liegt nicht einmal zwei Kilometer von dem Ort entfernt, an dem das hoffnungsvolle Leben einer seiner Studentinnen ein brutales Ende fand. Am 13. Mai 2016 wurde Yangjie Li tot unter einem Busch im Stadtzentrum gefunden - vergewaltigt und ermordet. Es ist eines der grausamsten Verbrechen in der Geschichte Sachsen-Anhalts. Die Tat hatte über das Land hinaus Entsetzen ausgelöst.

Die Last der Erinnerungen

Mitten im Geschehen waren Lückmann und seine Frau Yili Lu, die an der Hochschule Anhalt ausländische Studenten betreut. Sie haben in jenen Monaten die Eltern der jungen Chinesin begleitet, bis heute ist der Kontakt freundschaftlich. Doch die Erinnerungen an die Tat und all die Details hat Lückmann verdrängt. „Es ist wie ein Haus mit einem dunklen Zimmer, in das man nicht geht. Es ist da, aber ich komme nicht zu nahe.“

Rückblende: Am 11. Mai 2016 geht die 25 Jahre alte Studentin Yangjie Li abends joggen, sie läuft eine ihrer langen Strecken. Doch von ihrer Runde kehrt sie nie zurück. Zwei Tage später wird ihre Leiche unter einer Konifere entdeckt, nur wenige Meter von ihrer WG entfernt. Die junge Frau war missbraucht und zu Tode gequält worden. Die Täter wohnen mit zwei Kindern ganz in der Nähe: Sebastian F. und Xenia I., ein junges Paar, beide 21 Jahre alt. Unfassbar bleibt bis heute die extreme Brutalität und eiskalte Planung des Verbrechens. Es sind aber auch die familiären Verstrickungen, die diesen Fall besonders machen. Sebastian F. ist Sohn einer Polizistin und Stiefsohn des Chefs des Dessauer Polizeireviers.

„Je mehr man sich mit dem Fall beschäftigte, desto grausamer wurde er. Es war das blanke Entsetzen“, erinnert sich der scheidende Dessau-Roßlauer Oberbürgermeister Peter Kuras. „Wir denken, wir leben in einer Zivilgesellschaft und einer Wissensgesellschaft. Aber dieses Verbrechen sprengt jede Vorstellungskraft.“ Er sieht den Mord heute als einen der Tiefpunkte seiner Amtszeit. „Mich hat das emotional sehr mitgenommen, aber auch die ganze Stadt.“

Je mehr man sich mit dem Fall beschäftigte, desto grausamer wurde er.

Peter Kuras, OB Dessau-Roßlau

Yili Lu rief sofort nach dem Verschwinden Yangjie Lis Eltern an. Auch Lückmann fühlte sich zuständig. Nicht nur, weil die Hochschulleitung darum bat. Er war für Kooperationsprojekte mit chinesischen Universitäten zuständig. Er hatte Yangjie Li 2014 aus der Provinz Henan nach Dessau geholt. Sie stand kurz vor ihrem Master-Abschluss für Architektur. „Ich habe sie als sehr freundlich und lebenslustig erlebt. In ihrer chinesischen Community war sie eigentlich nur am Reden“, erinnert sich Lückmann. „Im Kurs gehörte sie zu den Besten. Sie hatte Talent. “

Nach dem Abschluss wollte Yangjie Li zurück nach China, in einem guten Architektur-Büro arbeiten. Das Traumhaus für ihre Eltern war schon geplant, sie wollte reisen, Marathon laufen, eine Familie gründen. „Sie war eine ganz normale junge Frau mit Wünschen und Träumen. Die Bindung zu ihren Eltern war sehr liebevoll.“

Yangjie Li tappte in die Falle

Ihre Hilfsbereitschaft wurde Yangjie Li an jenem Abend im Mai zum Verhängnis. Xenia I. sprach die junge Chinesin auf der Straße an und bat, ihr zu helfen, Kartons nach oben in die Wohnung zu tragen. Die Szene ist in einem Video festgehalten, das eine Überwachungskamera des Antiquitätengeschäfts im Haus aufgezeichnet hat. Yangjie Li schaute sich noch um – und ging dann mit. Die heimtückische Falle war zugeschnappt. Hinter der Tür stand Sebastian F. und fiel sofort über sie her.

Das Paar wohnte allein in dem Haus, er zerrte sie in eine leerstehende Wohnung. Yangjie Li starb unter Qualen, erklärte später die Gerichtsmedizinerin. Die Leiche der jungen Chinesin wurde in einer Mülltonne zum Hinterhaus transportiert und über ein Fenster nach draußen geworfen. In dem Video ist Sebastian F. zu sehen, der nachts um das Haus herum gegangen war, vermutlich, um sein Opfer unter die Konifere zu legen.

Yangjie Li wäre heute 30 Jahre alt.
Yangjie Li wäre heute 30 Jahre alt.
(Foto: dpa)

Lückmann und seine Frau holten Yangjie Lis Eltern am Flughafen ab, als Yangjie Li schon gefunden war. „Die ersten Tage waren sehr schwierig. Sie misstrauten uns, weil sie den Institutionen in Deutschland misstrauten“, sagt der Professor. Yangjie Lis Vater ist in China leitender Polizist. „Es gab ein ganz anderes Weltverständnis, andere Vorstellungen vom Hochschulbetrieb, von der Polizeiarbeit, vom Rechtssystem.“ Es sei schwer gewesen, zu vermitteln. Die Gespräche mit Polizei und Staatsanwaltschaft in Dessau waren aufgeladen. „In China laufen ganz andere Dinge. Die Polizei muss innerhalb von 48?Stunden einen Mörder haben. Die Verhörmethoden sind nicht gerade freundlich. Noch in Quartalsfrist werden Mörder erschossen.“

Eltern gehen „durch die Hölle

In Dessau sahen die Eltern das WG-Zimmer ihrer Tochter. Darin stand noch der volle Einkaufskorb, Notizen lagen auf dem Tisch. Der Vater ließ sich nicht davon abbringen, Yangjie Li im Leichenschauhaus zu sehen. Ein Bild hat sich Lückmann eingebrannt: Im Krematorium ratterte der Sarg zum Ofen. Der Vater umarmte den Sarg und bat seine Tochter um Vergebung. „Weil er ihr beigebracht hatte, zu kämpfen. Er glaubte: Wenn sie sich nicht gewehrt hätte, würde sie noch leben.“ Die Eltern flogen zurück nach China, die Urne mit der Asche ihrer Tochter auf dem Schoß.

Ihr Leid hinterließ auch bei den Begleitern tiefe Traurigkeit. „Wir sind am Rand der Hölle entlang gegangen, das kann man aushalten. Die Eltern sind durch die Hölle gegangen“, sagt Lückmann. Sie machten sich Vorwürfe, ihr einziges Kind nach Deutschland gelassen zu haben. Doch den beiden Dessauern vertrauten sie irgendwann. „Wir waren hier Mund und Ohren für sie“, sagt Yili Lu. „Wir wussten alles und waren der Ansprechpartner für alle.“ Diese fast tägliche Konfrontation mit dem Unfassbaren hatte ihren Preis. Jahrelang konnte Yili Lu nicht richtig schlafen, weil sie nachts nachdachte, ihr Mann verlor Gewicht. „Wir haben in dieser Zeit den Glauben an das Gute verloren und zwei Jahre Lebensfreude“, so Rudolf Lückmann.

Studenten trauern im Mai 2016 auf dem Campus der Hochschule.
Studenten trauern im Mai 2016 auf dem Campus der Hochschule.
(Foto: Andreas Stedtler)

Zwölf Tage nach Yangjie Lis Verschwinden wurden die Täter gefasst. Sebastian F. hatte bei einer Routine-Zeugenaussage die Bombe platzen lassen: Er erzählte eine abstruse Version von einvernehmlichem Sex zu dritt mit Yangjie Li und verwickelte sich in Widersprüche. Er und Xenia I. wurden verhaftet, Ende 2016 begann der Prozess am Dessauer Landgericht.

Als Lückmann zum ersten Mal den Ablauf der Tat hörte, musste er sich übergeben. Das Verfahren gab Einblick in eine abnorme Welt voller Gewalt, Erniedrigung und Gefühllosigkeit. Ein Gutachter beschrieb Sebastian F. als „außergewöhnlich empathielosen Menschen“, der Schuld oder Scham gar nicht kennt. Er war seit frühester Kindheit auffällig aggressiv und mehrfach in psychiatrischen Einrichtungen.

Während Sebastian F. bis zum Ende des Verfahrens schwieg, sagte Xenia I. aus. Sie erzählte, von ihm jahrelang missbraucht, geschlagen und gedemütigt worden zu sein. Er habe sie auch gezwungen, vor dem Haus Frauen anzusprechen, um ihm neue sexuelle Befriedigung zu verschaffen. An der Tat sei sie nur zeitweilig beteiligt gewesen. Das Gericht verurteilte Sebastian F. im August?2017 wegen Mordes zu lebenslanger Haft und stellte eine besondere Schwere der Schuld fest. Damit sitzt er mindestens 15 Jahre im Gefängnis.

Seine Ex-Freundin Xenia I. bekam wegen sexueller Nötigung fünfeinhalb Jahre. Sebastian F. ist in der JVA Burg inhaftiert und kann frühestens 2032 eine Freilassung auf Bewährung beantragen. Der psychiatrische Gutachter hatte allerdings schon damals eingeschätzt, dass er manifest gestört ist und weitere Taten nicht ausgeschlossen sind, insbesondere Sexual- und Gewaltdelikte. Schon vorher war er auch wegen Brandstiftung und Körperverletzung in zahlreiche Verfahren verwickelt.

Hoffnung - trotz allem

Dass Xenia I. inzwischen frei ist, ist wahrscheinlich, wird aber offiziell nicht bestätigt. 2019 war sie von der brandenburgischen JVA Luckau-Duben in die JVA Berlin verlegt worden. Dort gibt die Senatsjustizverwaltung „grundsätzlich keine Auskünfte über ehemalige und aktuelle Inhaftierte“. Bei guter Führung und Sozialprognose ist es durchaus üblich, die Haftstrafe zu reduzieren. Dabei könnte auch eine Rolle spielen, dass Xenia I. zwei Kinder hat. Das Dessau-Roßlauer Jugendamt hatte sie 2016 in Obhut genommen. Der gemeinsame Sohn mit Sebastian F. ist jetzt fast sieben, sein Halbbruder zwei Jahre älter. „Sie sind gut untergebracht, ihnen geht es gut“, erklärt das Jugendamt. Mehr wolle man zum Schutz der Kinder nicht sagen.

Der Mord, das Verfahren, die Tränen der Eltern, die eigene Trauer - viele Erinnerungen bedrücken Lückmann auch noch fünf Jahre später. „Wir haben von den Eltern viel gelernt. Sie hatten eine unglaubliche Stärke“, sagt Yili Lu aber auch. Die Mutter habe sogar Mitgefühl mit den Eltern des Täters gezeigt. „,Nun hat er zwei Müttern die Hoffnung ihres Lebens genommen’, hat sie gesagt.“

Nach dem Tod ihrer Tochter bekamen die Eltern Yangjie Lis zwei Mädchen. Die Zwillinge, die ihre große Schwester nie kennenlernen werden, sind heute drei Jahre alt. „Das Gute hat gewonnen“, sagt Lückmann dazu. Yangjie Lis Eltern hätten ein neues Leben gefunden. „Das versöhnt mich mit Vielem.“ (mz)