Flut Flut: Die Last der Schicksale
dessau/MZ. - Am vergangenen Sonntag, dem zehnten Jahrestag des Deichbruchs, da überkam ihn wieder dieses Gefühl. Hans-Georg Otto war herausgefahren zum Schwedenwall nach Dessau-Waldersee. Er ist öfter dort. Von ihm organisierte Fahrradtouren durch die Region sparen fast nie die Stelle aus, die im August 2002 traurige Berühmtheit erlangte.
Otto sagte nicht viel, er schaute nachdenklich auf den Deich. "Und es durchfuhr meinen ganzen Körper." Es war keine Angst, die in ihm aufstieg. Sondern die Erinnerung an ein beklemmendes Gefühl: Hilflosigkeit.
Teamarbeit im Krisenstab
Als die Flut im August 2002 in Mitteldeutschland tobte, da war Hans-Georg Otto zunächst im Urlaub. Manch einer wirft das dem damaligen Dessauer Oberbürgermeister bis heute vor. Zu unrecht. "Ich stand jeden Tag in Kontakt mit den Verantwortlichen", erinnert sich Otto, "als sich abzeichnete, das Dessau in Gefahr war, habe ich mich sofort auf den Heimweg gemacht."
Es war der Moment, als der einzige deutsche Fernsehsender, den Otto im Urlaub in den Schweiz empfing, Bilder des überfluteten Bahnhofs in Dresden zeigte. "Da wollte ich nur noch zurück und da sein.." Neunhundert Kilometer Autofahrt am Stück legte Otto hin. Im Kopf die Erinnerungen an die selbst erlebten Dessauer Hochwasser der Jahre 1954 und 1974.
Otto war in Ziebigk und Großkühnau aufgewachsen, der Kontakt zur Elbe und ihrer Gefahren allgegenwärtig. Im Sachsen-Anhalt der Neunziger und frühen Zweitausender Jahre, als Otto der Stadt Dessau als OB vorstand, aber dachte niemand daran, in bessere Hochwasserschutzanlagen zu investieren.
"Das Land, in dessen Hoheit die Deiche liegen, hat andere Prioritäten gesetzt. Da standen Industrie und Infrastruktur im Vordergrund." Otto sagt, ihm sei schon damals bewusst gewesen, "dass wir es schwer haben würden, wenn uns ein richtiges Hochwasser trifft." Er gibt aber auch zu: "Mit solch einem Ausmaß hätte ich nie gerechnet."
Nach seiner Rückkehr bildete Otto im August 2002 gemeinsam mit seinem Stellvertreter Jürgen Kessing, Baudezernent Karl Gröger und den Leitern der Feuerwehr den Krisenstab. Die Schwerpunkte wurden aufgeteilt, die Hilfsmaßnahmen koordiniert. "Es war Teamarbeit", sagt Otto. Doch auch die konnte nicht verhindern, dass Waldersee nach dem Bruch des Schwedenwalls am 18. August verloren ging.
"Aber ich sage nach wie vor, dass dieser Deichbruch beherrschbar gewesen wäre." Otto sieht die Schuld bei der Bundeswehr. "Ich verstehe bis heute nicht, dass sie aufgrund der Einschätzung eines ihrer zivilen Beraters entschieden hat, dort abzurücken." Man habe gesagt, wenn die Lücke am Schwedenwall geschlossen werde, würde der Damm am Klärwerk brechen. Otto hält das nach wie vor für "Quatsch".
Auch an einem anderen Krisenherd schätzte Otto die Lage anders ein. Die Bundesbahn, damals noch Inhaber der Gleise, hatte den organisierten Loks und mit Sandsäcken beladenen Waggons verboten, den Gleisdamm der Dessau-Wörlitzer Eisenbahn zu befahren. "Doch wir sind trotzdem gefahren und haben den Damm gerettet." Wäre der gebrochen, "hätte das Wasser bis in die Innenstadt gestanden".
Weinender Oberbürgermeister
Otto und sein Team gingen bis an die Grenze ihrer Belastung. "Die ersten drei Nächte habe ich nicht geschlafen." Doch die körperliche Belastung war nicht die schlimmste. "Ich schätze mich als jemanden ein, der stark ist, viel aushalten kann und die Dinge so nimmt, wie sie kommen." Wenn es um ihn selbst geht. Was Otto jedoch nicht tragen konnte, war die Last des Leids.
"Die vielen menschlichen Schicksale haben mich sehr berührt", gibt er zu, "da war eine große Hilflosigkeit, diesen direkt Betroffenen nicht helfen zu können." Das Bild des weinenden, schluchzenden Oberbürgermeisters, der in den Armen von Jürgen Kessing liegt, war eines der eindrücklichsten der bewegten Tage im August 2002. Otto hat sich in der Folge stark gemacht für die sofortige Sanierung und den Ausbau der Hochwasseranlagen in und um Dessau.
Er hat sich mit der Kulturstiftung heftigst über den Wert des Denkmal- im Vergleich zum Hochwasserschutz an Luisium, Kornhaus und Schloss Kühnau gestritten. Und er hat viele Menschen gesehen, die die Kraft für einen Neuanfang besaßen. "Wir sind nicht dankbar für diese Katastrophe", sagt er heute, "aber sie hat die direkt Betroffenen nachhaltig geprägt und sensibilisiert."
Das Mahnen von Waldersees Ortsbürgermeister Lothar Ehm, auch jetzt weiter in die Deichpflege zu investieren, unterstützt er. "Wir dürfen das nicht vernachlässigen, es immer vor Augen haben." Otto, nach seinem Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 2007 bis heute mit 70 Jahren immer noch in der Kommunalpolitik aktiv, will vorsorgen, dass er nicht noch einmal erleben muss, was ihn am meisten zusetzt: Hilflos zu sein.