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Stichwahl um Oberbürgermeister-Posten Eine Dessauerin im Revier - Wie Andrea Henze gegen die AfD um die Stadtspitze in Gelsenkirchen kämpft

In ihrem Leben hat Andrea Henze schon einige Umbrüche mitgemacht. Jetzt will die Dessauerin Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen werden. Ihre Erfahrungen als Ostdeutsche könnten ihr dabei helfen.

Von Julius Lukas 27.09.2025, 06:00
Seit 2022 ist die 49-jährige Dessauerin Andrea Henze in Gelsenkirchen Gesundheits- und Sozialdezernentin.
Seit 2022 ist die 49-jährige Dessauerin Andrea Henze in Gelsenkirchen Gesundheits- und Sozialdezernentin. (Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Dessau/Gelsenkirchen/MZ. - Als Andrea Henze im Gespräch von „Heimat“ spricht, kommt sie kurz ins Stocken. Dann sagt sie: „Also, was ich meine, ist meine jetzige Heimat“. Denn die Stadt, von der die 49-Jährige in diesem Moment redet, ist nicht Dessau-Roßlau, ihre Geburtsstadt, in der sie Kindheit und Jugend sowie viele Jahre ihres Ausbildungs- und Berufslebens verbrachte. Henze meint mit „Heimat“ Gelsenkirchen: „Hier lebe ich seit drei Jahren und die Stadt ist unfassbar schön.“

„Unfassbar schön“? Wer die Ruhrpottmetropole kennt, würde nicht unbedingt auf diese Beschreibung kommen. Zuletzt machte die einstige Stadt der Zechen vor allem als ärmste Großstadt Deutschlands Schlagzeilen. Der Schuldenstand ist hoch, die Arbeitslosigkeit ebenso. Manche Viertel sind geprägt von abrissreifen Häusern, in denen arme Migranten aus Osteuropa hausen. Vielerorts liegt Müll auf den Straßen, Schulen und Kitas sind teils marode. Als „shithole“, also „Drecksloch“, bezeichnete ein englischer Journalist die Stadt, als er sie während der Fußball-EM 2024 besuchte. Schön ist anders.

OB-Stichwahl in Gelsenkirchen: SPD gegen AfD

Von außen geschaut ist Gelsenkirchen ein Ort der Probleme. Andrea Henze jedoch sieht vor allem viel Potenzial für Wandel. Dass die Ostdeutsche einen so positiven Blick auf die Stadt in Nordrhein-Westfalen hat, liegt auch an ihrem Job – dem aktuellen und dem angestrebten. Derzeit ist sie Beigeordnete der Stadt für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz. Am Sonntag will die SPD-Politikerin Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen werden. In der Stichwahl tritt sie gegen Norbert Emmerich von der AfD an. Der 72-Jährige holte im ersten Wahlgang 29,8 Prozent der Stimmen – ein Spitzenwert für die AfD in NRW.

Zu viel Müll auf den Straßen wird als eines der großen Probleme in Gelsenkirchen gesehen.
Zu viel Müll auf den Straßen wird als eines der großen Probleme in Gelsenkirchen gesehen.
(Foto: IMAGO/Jochen Tack)

Oberbürgermeister-Kandidatin zu werden, habe sie nie vorgehabt, sagt Henze: „Mein erster Berufswunsch war Kindergärtnerin.“ Nach der zehnten Klasse entschied sie sich dann jedoch für eine Ausbildung in der Verwaltung, wohl auch, weil sie damals eine besondere Möglichkeit bekam. „Ich hatte mich bei der Stadt Dessau beworben, durfte meine Ausbildung dann aber in der Partnerstadt Ludwigshafen machen.“

Henze: „Ich arbeitete nebenbei als Putzkraft, betreute Kinder“

1992, als 16-Jährige, ging Henze nach Rheinland-Pfalz. „Das war ein riesiger Schritt für mich, der in meiner Familie auch für Diskussionen sorgte.“ Sie sei sehr behütet mit Eltern, Geschwistern und Großeltern im ländlichen Stadtteil Waldersee aufgewachsen – dort wohnt ihre Familie noch immer. Der Duft des Westens habe sie jedoch bereits in Kindheitstagen angezogen – in Form von Paketen der Verwandtschaft aus Wuppertal. „Ich erinnere mich noch genau an diesen verlockenden Geruch von Schokolade und Waschmittel.“

 Mit einem von Land und Bund geförderten Programm werden in Gelsenkirchen 3.000 Schrottimmobilien angekauft und abgerissen.
Mit einem von Land und Bund geförderten Programm werden in Gelsenkirchen 3.000 Schrottimmobilien angekauft und abgerissen.
(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Letztlich sei es vor allem ihr Vater gewesen, der der Jugendlichen riet, die Ausbildung in Ludwigshafen zu machen. „Er war selbst 1954 aus der DDR geflohen, hatte in Bochum eine Dachdeckerlehre gemacht und war dann wieder zurückgegangen.“

Für Henze läuft es ähnlich. Die drei Jahre in Rheinland-Pfalz, 500 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, seien intensiv gewesen. Von den 600 D-Mark Gehalt habe sie ihren Lebensunterhalt kaum bestreiten können. „Ich arbeitete nebenbei als Putzkraft, betreute Kinder“, erinnert sich Henze. Ihre Eltern hätten sie unterstützt, so gut es ging. „Aber die hatten damals ihre eigenen Herausforderungen.“

Aufstieg bis zur Leiterin des Amtes für Wirtschaftsförderung

Der Lebensmittelladen, den ihre Mutter und ihr Vater in dritter Generation führten, konnte sich nach dem Mauerfall nicht halten. „Als ich aus Dessau wegging, gab es den Laden noch, als ich zurückkam, existierte er nicht mehr.“ Der Umbruch, den so viele Ostdeutsche erfahren mussten, erfasste auch Henzes Familie. „Meine Mutter wurde Verkäuferin beim Bäcker, mein Vater arbeitete fortan im Straßenbau.“

Für sie selbst ging die Ausbildung nach der Rückkehr in ihre Heimatstadt weiter. Andrea Henze holte das Abitur nach, studierte Verwaltung und Soziologie und stieg anschließend in der Stadtverwaltung in Dessau bis zur Leiterin des Amtes für Wirtschaftsförderung auf. In dieser Zeit arbeitete sie am Bildungs-, Kultur-, Sozial- und schließlich auch am Stadtentwicklungsplan mit. „Das sind Erfahrungen, die mir heute helfen.“

Parallelen zwischen Dessau und Gelsenkirchen

Dessau ist Gelsenkirchen nicht unähnlich. Beides sind schrumpfende Städte, beide sind vom Strukturwandel betroffen und mussten beziehungsweise müssen sich neu erfinden. Dessau-Roßlau hat seit der Wende gut 30 Prozent seiner Einwohner verloren. In Gelsenkirchen lebten einst 400.000 Menschen. Heute sind es noch 270.000.

Taylor Swift sang auf ihrer Deutschland-Tournee auch in Gelsenkirchen.
Taylor Swift sang auf ihrer Deutschland-Tournee auch in Gelsenkirchen.
(Foto: Marius Becker/dpa)

In beiden Orten verschwand Industrie, was mit Arbeitslosigkeit, Leerstand und sozialen Problemen einherging. „Für die Menschen im Osten vollzog sich der Wandel nach 1989 natürlich rasanter“, sagt Henze. In Gelsenkirchen, wo die letzte Zeche 2000 schloss, ist der Prozess ein längerer. „Und er ist noch nicht abgeschlossen.“

In ihrer Dessauer Zeit lernte die Sachsen-Anhalterin etwa, Bildung, Arbeit und Wirtschaft als einen Komplex zu sehen. Ohne gute Bildungsinfrastruktur fehlen die Arbeitskräfte, die Voraussetzungen wie Kita-Betreuung oder Vereinbarkeit von Beruf und Pflege brauchen. „Wenn diese Strukturen nicht da sind, kann die Wirtschaft auch nicht wachsen.“

Das Potenzial der AfD ist wohl ausgereizt

Was Henze auch gelernt hat, nicht nur in Dessau, ist der Umgang mit Krisen. 2015 verließ sie ihre Geburtsstadt, um in Hagen Jobcenter-Chefin zu werden. „Da begann gerade der Zuzug von Flüchtlingen“, erinnert sie sich. Später wechselte sie als Leiterin der jeweiligen Sozialämter nach Duisburg und dann nach Bochum sowie schließlich während der Pandemie Anfang 2022 in ihr jetziges Amt nach Gelsenkirchen. Nun soll die Stadtspitze folgen.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Das Potenzial der AfD ist mit 30 Prozent wohl ausgereizt. Warum sich in einer Stadt, die jahrzehntelang als SPD-Bastion galt, ein Drittel der Menschen für die Rechtsaußen-Partei entschieden hat, führt Henze auf einen längeren Prozess zurück: „Es ist eine Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit, das Gefühl, abgehängt zu sein, das sich über lange Zeit aufgebaut hat.“ Die Kommune sei von Land und Bund alleingelassen worden. „Der Frust entlädt sich nun bei der Wahl.“

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Sie wolle als Stadtchefin deswegen laut nach außen sein, aber auch zeigen, was die Stadt hat – den Erlebniszoo, der zu den schönsten Deutschlands zählt, das berühmte „Musiktheater im Revier“ oder auch die Veltins-Arena, in der zuletzt Robbie Williams und Taylor Swift auftraten.

Vor allem aber, sagt Henze, wolle sie mit den Menschen reden. So, wie sie es bei über 400 Terminen während des Wahlkampfs getan habe. „Ich hatte immer ein großes Buch dabei, in dem ich alle Probleme und Wünsche aufgeschrieben habe.“ Darunter seien Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit, eine funktionierende Verwaltung und eine intakte Infrastruktur. „Ich kann ja viel erzählen, was ich alles machen will“, sagt Henze. „Die Leute müssen aber erleben, dass sich auch etwas ändert.“

Dass das angesichts des Zustands Gelsenkirchens nicht leicht wird, weiß die 49-Jährige. Doch schon früh habe sie gelernt, nicht aufzugeben. Weiterzumachen. „Ich bin zu DDR-Zeiten viel Rad gefahren, auch bei Meisterschaften“, erzählt Henze. „Und meine Siege holte ich meistens dann, wenn die Bedingungen am schlechtesten waren, wenn es regnete und der Wind mir entgegenkam.“