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Dessauer Landgericht Dessauer Landgericht: Fragen, keine Antworten

Von THOMAS STEINbERG 06.12.2011, 21:09

DESSAU-Rosslau/MZ. - Den Weg von Oberammergau nach Dessau wollte sich Gerhard Pappe ersparen, um nicht dabei zu sein, wenn das geschehen würde, was Prozessbeteiligte und -beobachter seit Wochen geahnt hatten: Das Verfahren vor dem Dessauer Landgericht wegen Tötung des anderthalbjährigen Jason, Pappes Enkel, würde mit einem Freispruch enden.

Manfred Steinhoff, der Vorsitzende Richter der 6. Strafkammer, findet sich am letzten Verhandlungstag am Dienstag in einer "unerträglichen Situation": Ein unschuldiges Kind werde getötet, und man finde nicht heraus, wer es war.



16. April 2009: Am Nachmittag kurz vor halb vier trifft der Notarzt ein in der gemeinsamen Wohnung von Jasons Mutter Christin H. und ihrem Lebenspartner Jan S. in Dessau. Dem 18 Monate alten Kind geht es sehr schlecht: Es atmet krampfhaft, ist benommen. Der Junge wird in das Städtische Klinikum gefahren. 20 Menschen kämpfen um sein Überleben. Nach zwei Notoperationen und einigen Tagen zeigt sich: vergeblich. Jason stirbt im September 2009.

Christin H. und Jan S. befinden sich zu diesem Zeitpunkt in Polizeigewahrsam - schon früh ergibt sich der Verdacht eines Tötungsverbrechens. Die Staatsanwaltschaft schaltet sich ein, H. und S. kommen in Untersuchungshaft. Anfang April 2009 beginnt das Verfahren vor dem Schwurgericht. Steinhoff blufft: "Eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die Vorwürfe nicht bestätigen, sehe ich im Moment nicht", sagt er, um den des Totschlags angeklagten S. und die der Misshandlung bezichtigte H. zum Geständnis im Sinne der Anklage zu bewegen. Schon wenig später zeigt sich: Die Beweislage ist dünn, sehr dünn. Wie dünn, belegt der am Dienstag nach 42 Verhandlungstagen ergangene Freispruch.

Während die Mutter immer neue Erklärungen für die Hämatome am Körper des Jungen präsentiert - er kneife sich, stolpere über Kabel -, lässt S. über seinen Anwalt Christian Schößling mehrfach Erklärungen abgeben. Von diesen gibt es Variationen, ihr Tenor ist gleich: Er sei allein mit dem Jungen gewesen, der habe gebrüllt, er habe ihn aus dem Bettchen gehoben. S. wolle den Jungen beruhigen, der sei ihm aus den Händen gefallen, mit dem Kopf auf eine harte Sofakante geschlagen oder er selbst mit dem Knie auf den Kopf des Jungen - so ungefähr.

Dass der Junge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an den Folgen eines Schütteltraumas stirbt und nicht an einer stumpfen Gewalteinwirkung, wie in der Anklageschrift behauptet, dass zwischen dem Ermittlungsbeginn und dem Urteil die rechtsmedizinischen Gutachter wechseln, gehört zu den unerfreulichen Aspekten des Verfahrens. Mit seiner immer wieder praktizierten "homöopathischen Beweisaufnahme" (Oberstaatsanwalt Dirk Bildhauer) wirkt das Schwurgericht nicht immer überzeugend. Und es findet in Christian Schößling, dem Anwalt von S., einen äußerst versierten - manche würden sagen: unangenehmen - Widerpart.

Vermutlich wäre bei einem anderen Prozessverlauf das Urteil nicht anders ausgefallen. Aber es hätte eher kommen können. Nicht zu einem Zeitpunkt, da alle Beteiligten allmählich verschlissen sind, da die hochschwangere H. eventuell für lange Zeit hätte ausfallen und den Prozess zum Platzen hätte bringen können.

Dass ein Freispruch fast unvermeidlich wird, zeichnet sich vor zweieinhalb Monaten ab. Der hallesche Rechtsmediziner Prof. Manfred Kleiber macht als Todesursache eindeutig ein Schütteltrauma aus. Und damit bricht das gesamte Beweisgebäude in sich zusammen. Etwa eine Stunde vor Eintreffen des Notarztes soll Christian S. mit dem Jungen allein gewesen sein und ihm in dieser Zeit die tödlichen Verletzungen zugefügt haben. Das Problem: Ausgehend von dem Zustand, in dem der Notarzt Jason vorfindet, muss das fatale Schütteln zwei, eher drei Stunden früher stattgefunden haben - in einer Zeit, als S. nicht allein in der Wohnung ist. Ebenso kann plötzlich die Mutter als Täterin infrage kommen. Oder begehen die beiden die Tat gemeinsam? Handelt nur eine Person und unterlässt es die andere, den Jungen zu schützen? Fragen, keine Antworten.

Dass Staatsanwalt Bildhauer in seinem Plädoyer am Dienstag trotzdem für S. fünf Jahre fordert - wegen Körperverletzung mit Todesfolge, nicht wegen Totschlags - ist kaum mehr als ein Versuch, den Lauf der Dinge im letzten Moment zu verändern. Der Nachweis der Täterschaft, unerlässlich für eine Verurteilung, ist nicht zu führen. Die Kammer muss S. freisprechen. Ebenso die Mutter vom Vorwurf der Misshandlung - die einzig dafür potentiell relevante Zeugin erweist sich als unglaubwürdig.

Der Freispruch, er schmerzt nicht zuletzt Steinhoff. Er glaube nicht, dass, wer immer Jason getötet habe, sich einem höheren Recht beugen müsse. Der Freispruch möge vielen unverständlich erscheinen. Für diesen gibt es allerdings eine unumstößliche Rechtfertigung: "Der Rechtsstaat beweist sich darin, so etwas zu ertragen."