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Auf der Spur der Vorfahren Auf der Spur der Vorfahren: Wie ein Berliner Arzt nach seinen Wurzeln in Dessau sucht

Von Heidi Thiemann 11.03.2017, 13:00
Erst sehr spät hat Dr. Thomas Abel aus Berlin von seinen jüdischen Vorfahren in Dessau erfahren.  Danach begann er die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten. Im Liboriusgymnasium erzählte er von den  Schicksalen, die die  einzelnen Mitglieder erleiden mussten.
Erst sehr spät hat Dr. Thomas Abel aus Berlin von seinen jüdischen Vorfahren in Dessau erfahren.  Danach begann er die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten. Im Liboriusgymnasium erzählte er von den  Schicksalen, die die  einzelnen Mitglieder erleiden mussten. Lutz Sebastian

Dessau - Es ist mucksmäuschenstill in der alten Aula des Liboriusgymnasiums. Der Berliner Kinderarzt Dr. Thomas Abel spricht zum allerersten Mal in der Öffentlichkeit über seine Familiengeschichte. Die hat mit einem dunklen Kapitel Dessauer Geschichte zu tun. Denn Abels Großtante Thekla, eine Jüdin, wurde im November 1938 aus dem Leben getrieben. Kurz nach der Pogromnacht, als die Synagoge in Dessau brannte und jüdische Geschäfte geplündert wurden, beging die alte Dame Selbstmord. Die Zeitung „Der Mitteldeutsche“ hatte alle noch in Dessau lebenden Juden zuvor auf ihrer Titelseite mit Namen und Anschrift benannt. Auch Thekla Abel, die in einem Altenheim lebte.

Thomas Abel hat erst in den 1990er Jahren von seiner Familiengeschichte erfahren. Er selbst ist ein Nachkriegskind, das im Westen Berlins in einem bürgerlichen Haus aufwuchs, evangelisch getauft ist, zur Schule ging, bei der Bundeswehr war, Medizin studierte und als Kinderarzt praktizierte. „Ich hatte eine normale Schulzeit“, erzählt er, „aber über Religion und Familiengeschichte wurde nur in seltenen Ausnahmen gesprochen“. Die aktuelle Tagespolitik stand im Mittelpunkt. Nazideutschland und der Krieg waren verdrängt worden.

Erst als sein Vater fast 90 Jahre alt war, erzählte dieser bruchstückhaft über die Familie, die keine unbedeutende in Dessau war.

Abels Familie wohnte seit 1851 in Dessau

Abels Urgroßvater war der Kantor und Schächter Moritz (Moses) Abel, der 1851 mit seiner Frau Rosalie, geborene Cohn, von Wörlitz nach Dessau zog. Das Paar bekam sechs Kinder, Thekla war die älteste. Der Großvater von Thomas Abel, Leonhard, war das jüngste Kind des Kantor-Paares.

Seit er in den 1990er Jahren von seinen jüdischen Vorfahren erfuhr, war der Arzt sehr oft in Dessau, hat recherchiert, besuchte den israelitischen Friedhof, wo neben Thekla und ihrer 1932 verstorbenen Schwester Johanna auch sein Großvater Leonhard die letzte Ruhe fand. Er war ehemaliger Prokurist bei Tuchmann und Söhne, einem Sägewerksbetrieb, und starb 1937. Dem an Diabetes leidenden Mann war die lebensnotwendige Insulinbehandlung versagt worden. Seine Großmutter, eine Christin, zog es anschließend mit den Kindern in die Anonymität der Hauptstadt Berlin. Die drei anderen Geschwister waren ins Erzgebirge und nach Chemnitz verzogen. Abel fand zum Teil Spuren, die nach Argentinien führten.

Ein Steinmetz half Abel bei der Suche nach dem Grabstein seines Großvaters

In Dessau war im November 1938 auch der israelitische Friedhof zerstört worden. Abel fand mit Hilfe von Steinmetz Volker Wotzlaw den Grabstein des Großvaters, konnte ihn auf die genau lokalisierbare Grabstätte legen. An Thekla und ihre Schwester Johanna erinnern von ihm gestiftete Grabsteine aus Jura-Marmor.

Doch nicht nur der Friedhof soll ein Gedenkort sein. Abel, der sich in Berlin-Moabit in einem Verein für die Aufarbeitung jüdischer Geschichte engagiert, kam die Idee, an Thekla Abel mit einem Stolperstein zu erinnern. Mit der Aktion, die vor Dessau-Roßlau von der Werkstatt Gedenkkultur begleitet wird, wird an Opfer des Nationalsozialismus gedacht: Einwohner der Stadt, die diskriminiert, ausgegrenzt, verschleppt, gequält und ermordet wurden. Bei der Verlegung neuer Stolpersteine am 28. März wird Thomas Abel in Dessau dabei sein. In der Mendelssohnstraße 14 (ehemals Herzogallee) wird an Thekla Abel gedacht.

„Demokratie ist kein Selbstläufer.“

Mit Abel war auch der Historiker Bernd Ulbrich zu den Zehntklässlern ins Liboriusgymnasium gekommen. Im Gespräch mit den Schülern beantworteten sie zahlreiche Fragen. Der Bogen spann sich dabei von der Entwicklung der jüdischen Einwohnerschaft in der Stadt über die Gründe, die zu Nazideutschland und dem Pogrom 1938 führten bis zur heutigen Entwicklung in den USA und der Türkei.

„Demokratie ist kein Selbstläufer“, sagte Abel den Schülern. „Es braucht wache, aufmerksame Leute.“ Und auch einen zweiten Rat gab er den jungen Leuten mit auf den Weg: mit Zeitzeugen sprechen, sie befragen, so lange sie noch am Leben sind. (mz)