Tragödie in Wolfen-Nord Tragödie in Wolfen-Nord: Vor 45 Jahren starben sechs Menschen bei Gasexplosion

Wolfen - Gegen 6 Uhr morgens erschütterte die Explosion Wolfen-Nord. Horst Kaldenbach fuhr gerade über die Verbindungsstraße – damals noch ein Feldweg – zur Arbeit in die Filmfabrik. Er hörte den Rums, konnte ihn aber nicht zuordnen. „Ich dachte, es hat in der Filmfabrik gekracht.“ Also fuhr der damals 39-jährige Maurermeister weiter.
Vermutlich war seine Frau zu diesem Zeitpunkt schon tot. Sie hätte an diesem 24. Januar 1973 erst die zweite Schicht in der HO-Verkaufseinrichtung „Am Meilenstein“ gehabt und war daher am Morgen noch zu Hause. „Sie hatte sich noch mal hingelegt“, erinnert sich der heute 84-Jährige.
Wenig später ereignete sich die Gasexplosion, die in der Nachbarwohnung ihren Ursprung nahm. Ein Suizid. Der dortige Bewohner hatte laut Kaldenbach im Bad an der Gassteigleitung eine Überwurfmutter aufgedreht und sich danach in die Wanne gelegt. Gas strömte in die Wohnung im dritten Stock, verteilte sich im ganzen Haus.
Mehrere Wohnungen an der Straße der Republik lagen in Schutt und Asche
Möglicherweise löste ein Funke die Explosion aus, als jemand im Haus eine Klingel drückte. Das erzählen sich viele Menschen heute. Kaldenbach kennt aber auch eine Version, bei der jemand eine Kühlschranktür öffnete und sich dadurch das Gas entzündete.
Der Wolfener erhielt dann in der Filmfabrik einen Anruf. Er solle nach Hause kommen, hieß es, bei ihm gab es eine Gasexplosion. Dort angekommen bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Mehrere Wohnungen seines Blocks an der Straße der Republik lagen in Schutt und Asche, auch seine.
Sechs Menschen kamen an dem Tag ums Leben, darunter ein Kind und Kaldenbachs Ehefrau. „Das war furchtbar. Vor Ort haben mich Ärzte gleich mit Faustan ruhig gestellt.“ Suchtrupps suchten den ganzen Mittwoch unter den Schuttbergen nach Überlebenden.
Für Uwe Hanitzsch fiel wegen der Explosion in Wolfen-Nord die Schule aus
Der Jeßnitzer Uwe Hanitzsch war damals zwölf Jahre alt. Für ihn fiel wegen der Explosion in Wolfen-Nord die Schule aus. Aber anstatt nach Hause zu gehen, lief er mit Schulkameraden und vielen weiteren zur Unglücksstelle. „Am Nachmittag haben sie noch zwei Kinder lebend geborgen. Das hätte zu diesem Zeitpunkt niemand mehr gedacht.“
Der Sohn von Horst Kaldenbach entging der Katastrophe. Er fuhr an diesem Tag zu einem Bewerbungsgespräch, erinnert sich sein Vater. Doch der Schicksalsschlag mit seiner Frau und der zerstörten Wohnung blieb. „Ich habe danach versucht, mich in die Arbeit zu stürzen und abzulenken.“
Der Wolfener wohnte übergangsweise wieder bei seiner Mutter in Jeßnitz. Gleichzeitig bekam er viel Unterstützung von der Versicherung und vom Staat. Ein Vertreter vom „Sozialwesen“ sei mit ihm Möbel einkaufen gefahren. Kollegen hätten ihm beim Aus- und Einräumen des Kellers in Wolfen-Nord geholfen. „Das war großartig.“
Noch heute ist dem Wohnblock die Explosion von 1973 anzusehen
Horst Kaldenbach hat sich entschieden, nach der Reparatur wieder in die Wohnung zurückzugehen. „Viele andere sind dort wieder eingezogen.“ Im Herbst 1973 kehrte der Witwer zurück. Noch heute lebt er in der Wohnung, die vor 45 Jahren zerstört wurde. Er hat wieder geheiratet.
Aber ein weiterer Schicksalsschlag ereilte ihn: Seine zweite Ehefrau ist an Krebs gestorben. Nun lebt der Rentner mit seiner dritten Ehefrau in der wiederhergestellten Wohnung.
Noch heute ist dem Wohnblock die Explosion von 1973 anzusehen. Zwei der fünf Balkonreihen unterscheiden sich von den anderen. Sie sind nach moderneren Standards wieder hergerichtet worden.
„Freiheit“-Fotograf Siegfried Kunze ist wegen des Fotos kurzzeitig festgenommen worden
Die Ursache der Explosion stand nie in der Zeitung. Die Berichterstattung war damals dünn. Der damalige „Freiheit“-Fotograf Siegfried Kunze ist sogar wegen des obigen Fotos kurzzeitig von den Sicherheitsorganen festgenommen worden.
„Ich musste ihn identifizieren“, schreibt Ehrenfried Keil, der damals für die „Freiheit“ arbeitete. „Erst nachdem sich der damalige Erste Sekretär der SED-Kreisleitung als höchster Sicherheitschef des Kreises eingesetzt hatte, wurde er wieder freigelassen.“
Vor dem Suizid soll der Bewohner des Blocks, der Hausmeister an der Fritz-Weineck-Schule war, seine Stieftochter getötet haben. Die Leute erzählen, dass er sie jahrelang missbraucht habe. Suizid und Mord sollen am gleichen Tag geschehen sein. Von offizieller Behördenseite konnte die MZ vor dem Erscheinen des Artikels keine Bestätigung mehr einholen. Die angefragten Polizei- und Staatsanwaltschaftsstellen konnten nicht mit Archivunterlagen helfen. (mz)
