Tödliche Gefahr um Flugblatt
Gräfenhainichen/MZ. - Erinnerungen an eine Zeit, als sich der Zweite Weltkrieg unter furchtbaren Tragödien dem Ende zuneigte, und der heute 76-Jährige ein junger Postlehrling im zweiten Lehrjahr in Gräfenhainichen war.
"Was damals im April 1945 passierte, hätte mich und meine Familie sogar das Leben kosten können", schätzt der Rentner heute ein, der nach 45 Jahren - 30 Jahre lebte er mit seiner Frau in Raguhn und 15 Jahre im thüringischen Friedrichsrode - aus Heimweh und Sehnsucht vor knapp zwei Jahren in seine Heimatstadt Gräfenhainichen zurückkehrte. Doch über all die Jahre hat er ein Flugblatt der Alliierten aufbewahrt, das heute gerahmt die Wand im Arbeitszimmer ziert und Einblicke in eine Zeit gibt, die später Geborene kaum nachvollziehen können.
Mit 16 gemustert
"Es war im April 1945. Die amerikanischen Truppen standen bereits an der Mulde bei Raguhn und die sowjetischen Truppen in Wittenberg an der Elbe. Ich war mit meinen 16 Jahren gerade bei der Musterung in Egers Gaststätte bis Oktober 1945 zurückgestellt worden, als Mitte des Monats unser Postamt geschlossen und von einer Funkereinheit der Wehrmacht belegt wurde. Der Postverkehr war eingestellt. Durch die Sprengung der Eisenbahnbrücken in Wittenberg und Bitterfeld kamen auch keine Züge mehr nach Gräfenhainichen", schildert Schacher die damalige Situation.
Verbrennung im Wald
Kurz darauf wurde von Offizieren der Wehrmacht und der SS-Verbände mit Hilfe der letzten wehrfähigen Männer - es waren überwiegend Alte und Jugendliche - ein Volkssturm in Gräfenhainichen eingesetzt.
Sie hatten die Aufgabe, im Dammmühlengrund, an der Straße nach Zschornewitz, zwischen Jüdenberg und Möhlau und an der Straße etwa 500 Meter vom Ortsausgang Gräfenhainichen nach Schköna Panzersperren und Schützengräben anzulegen.
"Ich wurde in der Schkönaer Richtung eingesetzt. Wir Jugendlichen - alle zwischen 14 und 16 Jahre alt - mussten im Wald Bäume absägen und zur Straße schleppen. Die alten 60- bis 70-jährigen Männer hackten die Straßen auf und bauten mit den Bäumen die Sperren, die jeder Panzer hätte leicht umfahren können", erinnert sich der Mann auch an die Schützengräben, die im Wald ausgehoben wurden. "Nach ein paar Tagen bekamen wir Jugendliche den Auftrag, im Wald Richtung Jösigk und Schköna Flugblätter, welche amerikanische Flugzeuge in der Nacht zuvor über diesem Gelände abgeworfen hatten, zu suchen und einzusammeln", erzählt Schacher. "Bei der Einweisung durch SS-Leute wurde uns gesagt, wer von euch so ein Flugblatt für sich behält, das gilt als Wehrkraftzersetzung und der wird auf der Stelle erschossen."
"Der Inhalt dieser Flugblätter sollte den deutschen Soldaten und dem Volkssturm die Regeln für die Gefangennahme durch die Amerikaner erklären und als Passierschein dienen", erinnert sich der Senior, dass sehr viele Flugblätter gefunden, abgeliefert und auch gleich im Wald verbrannt wurden.
Fund auf dem Heimweg
"Als wir dann nach Hause gehen konnten, habe ich auf dem Heimweg noch ein solches Flugblatt gefunden und voller Angst mit nach Hause genommen und versteckt. Erst später konnte ich einschätzen, welche Gefahren ich mir und meinen Eltern damit angetan hatte", weiß Schacher heute. Am 26. April 1945 besetzten die amerikanischen Truppen ohne Widerstand die Stadt Gräfenhainichen.
Der damals noch amtierende Bürgermeister Bernhardt erließ auf Anordnung der Amerikaner am selben Tag zwei Aufrufe an die Einwohner der Stadt, sich an die Sperrzeiten zu halten.
Wer außerhalb der Zeiten von 10 bis 12 und 16 bis 18 Uhr auf der Straße angetroffen werde, hieß es, müsse damit rechnen, von der amerikanischen Besatzungstruppe erschossen zu werden. Das Flugblatt, das nun nach 60 Jahren immer noch in Schachers Besitz ist, soll "Kindern und Enkeln eine ernste Mahnung dieser gefährlichen und schlechten Zeiten sein", hofft der Gräfenhainichener.