Spektakuläre Werbeaktion in Bitterfeld im Jahr 1966 Spektakuläre Werbeaktion in Bitterfeld im Jahr 1966: Weihnachtsmann kam mit dem Hubschrauber

Bitterfeld - Einen spektakuläreren Auftritt hat es in der Adventszeit nie wieder gegeben. Dicht gedrängt standen Tausende Bitterfelder am 2. Dezember 1966 auf den Binnengärtenwiesen und starrten gen Himmel. Plötzlich schwenkte ein roter Hubschrauber ein und landete sanft. Die Luke öffnete sich und heraus kletterte - der Weihnachtsmann. Was keines der jubelnden Kinder ahnte: Der weißbärtige Alte zählte gerade mal 18 Jahre, stand sonst am Herd im Hotel Central und hieß in Wirklichkeit Jürgen Schulz. 48 Jahre später entdeckt sich der gebürtige Sandersdorfer in der Ausstellung „Bitterfeld im Winter“ im Kreismuseum wieder.
Weihnachtsmann Wunschzettel entgegen und verteilte Süßes
Schmunzelnd steht Schulz vor den Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Begeisterung der Leute darauf hat er nie vergessen. Doch weiß er noch, wie er als Jungspund zu diesem spektakulären Auftritt kam? „Ich hatte 1965 als Koch-Lehrling im Hotel Central angefangen.“ Einmal im Monat habe der Klub der jungen Gastronomen im Tanzsaal „Bunte Palette“ Gerichte und Küchengeräte vorgestellt. „Da habe ich moderiert.“ Offenbar gut, denn wenig später wurde Schulz gefragt, ob er den Weihnachtsmann der Stadt spielen wolle. Und so fuhr er in der roten Kutte mit einer Postkutsche durch die Straßen, sprach mit Kindern, nahm Wunschzettel entgegen, verteilte Süßes. Das fröhliche Spektakel war eine Werbeaktion der HO.
Die spektakulären Auftritte des Bitterfelder Weihnachtsmannes Mitte der 60er Jahre waren Werbeaktionen der staatlichen Handelsorganisation (HO). Sie wollte damit die Leute auf die Weihnachtsangebote in ihren Läden aufmerksam machen. Denn damals gab es noch Werbung in der DDR, sogar im Fernsehen liefen Spots, die „Tausend Tele-Tips“. Der Hubschrauber 1966 war rot mit weißen Schneeflocken und einem weißen Herz. Denn der Werbeslogan lautete in jenem Jahr „Schenke mit Herz“. Damals kamen Weihnachtsartikel und -dekoration erst zum Advent in die Geschäfte.
Als Weihnachtsmann hat Schulz seine schwarzen Feuerwehrstiefel und eine dunkle Hose angezogen. Letztere war durch den langen roten Mantel eh verdeckt. Der Bart wurde mit Theaterkleber befestigt. „Meine paar eigenen Fusseln hätten nicht ausgereicht“, sagt er. Eine Gesichtsmaske aus Pappe hat er jedoch nie getragen, denn der Weihnachtsmann sollte natürlich und lebendig aussehen. (cze)
Als Schulz ein Jahr später erneut zusagte, die Bitterfelder Kinder zu überraschen, lautete die wichtigste Frage: „Hast du Flugangst?“ „Nö“, behauptete er, obwohl er noch nie in der Luft war. „Das war für mich Neuland unterm Flug.“ Bereut hat Schulz die Entscheidung nie. „Das Fliegen war einfach toll. Ich war hellauf begeistert.“ Er war lange in der Luft. Denn nachdem er in Bitterfeld kostümiert und geschminkt worden war, ging es in voller Weihnachtsmann-Montur mit einem Wartburg zum Flugplatz Leipzig-Mockau. „Der musste erst aufgeschlossen werden“, erinnert sich Schulz. „In der Halle war kein Mensch. Erst nach ein paar Minuten kam die Besatzung: drei Mann in Interflug-Uniform.“ Doch statt nun auf kürzestem Weg nach Bitterfeld zu fliegen, steuerte der Heli Eisleben an. „Die eigenartige Route führte weiter über Halle nach Bitterfeld.“ Bei bestem Wetter genoss er den Ausblick. „Wann hat man schon mal einen Hubschrauber für sich allein?“ Doch mit welchem Typus genau ist er schließlich vom Himmel hoch niedergeschwebt? „Das war ein russischer Mi 4, der bis 1972 für die Interflug im Einsatz war.“
„Ich drohte, dass unartige Kinder nicht ins Goldene Buch des Weihnachtsmanns kommen.“
Unten sah Schulz plötzlich Tausende Menschen: „Unfassbar!“ Als Begrüßungskommando standen der HO-Kreisdirektor und die Zwerge bereit. Diese Wichtel-Begleiter waren hiesige Schüler. Schulz schnappte sich den Geschenkesack und stapfte los.
„Ich habe zig Hände geschüttelt, mit den Leuten geredet, Süßes verteilt“, erzählt er. Schließlich ging es mit einem kleinen Zug auf Rädern durch die Stadt. „Die Straßen waren gesäumt von Menschen - wie in Köln beim Rosenmontagsumzug.“ Immer wieder hielt die Bahn. „Dann haben wir Geschenke verteilt.“ Eine Rute hatte der Weihnachtsmann nicht. Höchstens mahnende Worte: „Ich drohte, dass unartige Kinder nicht ins Goldene Buch des Weihnachtsmanns kommen.“ Drei Stunden war der Weihnachtsmann an jenem Freitagnachmittag unterwegs. Volkspolizisten sperrten die Straßen. Doch so spektakulär die Ankunft des Weihnachtsmannes war, so unauffällig verschwand er wieder: „Ich bin einfach in einen Seiteneingang des Hotels Central geschlüpft.“
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Schulz glaubt, dass die Aktion wahnsinnig viel Geld gekostet haben muss. „Mir ist rätselhaft, wie das finanziert werden konnte.“ Auch die Tatsache, dass man den Ablauf so einfach hielt und nicht mal seine Taschen überprüfte, sei „für die DDR nicht normal“ gewesen. Und wie sah seine Gage aus? „Ich wünschte mir ein buntes Nylonhemd, die waren Mangelware und kamen meist aus dem Westen. Schulz bekam ein dunkelgrünes Exemplar im Wert von etwa 70 Mark, einen Händedruck und die Frage: „Nächstes Jahr wieder?“
„Den Weihnachtsmann bin ich nie wieder losgeworden.“
Tatsächlich hat er noch ein drittes Mal den Weihnachtsmann gegeben, wenn auch ohne Hubschrauber. Danach zog er in den Magdeburger Raum. Den Koch-Beruf gab er auf, arbeitete als Meister in einem Chemiebetrieb und ging 1990 als „Verwaltungsmensch in eine Stadtverwaltung - bis zur Rente.“
Doch bei aller Veränderung: „Den Weihnachtsmann bin ich nie wieder losgeworden.“ Nicht nur für seine zwei Kinder und später die Enkel zog er Jahr für Jahr den roten Mantel an. „Auch für andere Familien, Vereine oder Arbeitskollektive.“ Das habe riesigen Spaß gemacht - fast immer. Außer wenn Kinder linientreuer Eltern russische Gedichte aufsagten. Oder er nach der Wende von Vierjährigen Tritte bekam, weil er das gewünschte Auto nicht dabei hatte. Doch nun hat er die Kutte an den Nagel gehängt. „Irgendwann muss Schluss sein.“ Obwohl - in zwei Jahren jährt sich der Hubschrauberflug zum 60. Mal. Reizt ihn das nicht? „Wenn die Stadt fragt, würde ich nicht Nein sagen.“ Doch eines steht für Schulz fest: „Mit dem Fallschirm springe ich nicht ab.“ (mz)


