Rummel soll retten Rummel in Wolfen soll retten: Pandemie und Volksfest-Absagen haben Schausteller schwer gebeutelt

Wolfen - Gleich sollen die Schmetterlinge wieder abheben. Überlebensgroße Insekten mit aufgespannten Flügeln, sie hocken ganz oben auf dem Karussell. Aus den Lautsprechern schallt poppiger Schlager. Gerade steigen zwei Jungen in den Wagen mit der Nummer 12 ein.
Ein Mitarbeiter legt ihnen eine Decke unter. „Durch die Sonne sind die Sitze heiß“, erklärt Bettina Jacobi einen Moment später. „Damit die Kinder sich nicht den Hintern verbrennen“. Dann muss sie zurück ins Kassenhäuschen. Sich um ihr Karussell kümmern, Tickets verkaufen.
Aber die Pressearbeit gehört nun eben auch dazu. Die Hinsdorferin hat dafür gesorgt, dass hier auf dem Festplatz in Wolfen-Nord Fahrgeschäfte stehen. Noch bis kommenden Sonntag lädt dort der „Luna-Park“ ein.
Fast alle großen Veranstaltungen sind der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen
Schaustellerin Jacobi hat den kleinen Rummel gemeinsam mit ihrem Mann organisiert. Denn die Volksfeste, auf denen die beiden jetzt eigentlich unterwegs wären, sind abgesagt. Das Roßlauer Schifferfest etwa. Oder die 700-Jahr-Feier in Bobbau. Alles ist der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Und deshalb sind die Jacobis nun selbst Veranstalter.
An diesem frühen Sonntagnachmittag ist ihr Jahrmarkt noch recht leer, er hat gerade erst geöffnet. Einige Familien schlendern bereits durch das Rund. Vom Entenangeln zum Kräppelchen-Stand, vorbei an Softeis, Lebkuchenherzen und Autoscooter. Hinter den Glasscheiben des Greifautomaten locken Kuscheltier-Berge.
Es ist heiß, über 30 Grad Celsius. Musikfetzen aus den Fahrgeschäften lärmen von verschiedenen Seiten gegeneinander an. Über dem Festplatz sind lange Leinen gespannt, daran hängen bunte Wimpel. Und am Eingang weisen zwei Schilder auf Hygieneregeln hin, die Auflagen dafür waren, dass der Luna-Park trotz Pandemie öffnen darf. Abstand wahren, Hände desinfizieren. „Das funktioniert“, sagt Jacobi. „Die Leute halten sich daran“. 350 Besucher darf sie zeitgleich auf das eingezäunte Gelände lassen. Mit mehr Andrang rechnet die Veranstalterin wegen der Hitzewelle ohnehin nicht.
Für Jacobi ist der eigenhändig organisierte Rummel in Wolfen erst der zweite Gig 2020
Jacobi ist froh, dass überhaupt wieder Gäste kommen. Denn bislang war die Saison 2020 für sie ein Totalausfall. Das Coronavirus hat die Branche so hart gebeutelt, wie sonst nur wenige. Gerade als die Schausteller im März nach der Winterpause wieder losziehen wollten, traf die Pandemie Deutschland. Ostern, Pfingsten - keine Chance.
Für Jacobi ist der eigenhändig organisierte Rummel in Wolfen erst der zweite Gig 2020. „Wir sind seit Dezember letzten Jahres ohne Einkommen“, sagt sie. In einem Saisongeschäft ist das doppelt prekär. „Es kommt nicht das Geld zusammen, um für den Winter vorzusorgen. Diesen Sommer konnten wir nichts ansparen“. Der Staat hat 9.000 Euro Soforthilfe gegeben.
Ansonsten sei man auf die Grundsicherung vom Arbeitsamt verwiesen worden, so Jacobi. Ein Gräuel für das seit 20 Jahren selbstständige Ehepaar. „Dann sitzt man auf einmal vor 100 Seiten Antrag“, sagt die Schaustellerin. „Kein schönes Gefühl“.
Viele der Buden auf dem Wolfener Festplatz werden vom Schwager oder Cousin betrieben
Nun haben die Jacobis sich gegen das Geld vom Amt entschieden - und für den eigenen Rummel. Beide sind in Schausteller-Familien aufgewachsen. Viele der Buden auf dem Wolfener Festplatz werden vom Schwager oder Cousin betrieben. Umschulen? Das will Jacobi nicht. „Wir kennen unser ganzes Leben nichts anderes, als das hier“, sagt sie. „Find’ da mal einen Nagel, an dem du das aufhängen kannst“.
Aufgehangen haben die Schausteller stattdessen etwas anderes. „1,50 M vor dem Abgrund“, steht auf einer Plane am Eingang zum Luna-Park. Adressiert ist sie an Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU).
Der Luna-Park hat bis Sonntag täglich zwischen 14 und 21 Uhr geöffnet. Am Mittwoch gibt es Rabatte für Familien, am Freitag für Frauen und als solche verkleidete Männer.
Jacobi denkt, dass der Branche schlichtweg die Lobby fehlt
Dass letzterer Volksfeste im Frühling zu jenen Teilen des Lebens gezählt hat, die während der Pandemie am ehesten verzichtbar seien, hat viele der über 5.000 Schausteller in Deutschland getroffen. Bei den Lockerungen fühlen sie sich nun übergangen. „Man kann nach Mallorca in den Urlaub fliegen, aber nicht Autoscooter fahren“, sagt Jacobi. „Das ist eine Ungleichbehandlung“. Events wie jenes in Wolfen zeigen, dass die Schutzmaßnahmen funktionieren. „Warum dann keine Volksfeste mit festen Regeln?“
Jacobi denkt, dass der Branche schlichtweg die Lobby fehlt. Daran hätten auch mehrere Großkundgebungen nichts geändert. „Bis jetzt haben wir noch nicht richtig Gehör gefunden“, sagt sie. Deshalb ist die Hinsdorferin nun auf eigene Faust unterwegs. (mz)

