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Reihe "Film wiederentdeckt" Reihe "Film wiederentdeckt": Neuer Film von Siegfried Kühn

Von Andreas Behling 19.03.2015, 14:49
Regisseur Siegfried Kühn (r.) im Gespräch mit Moderator Paul Werner Wagner
Regisseur Siegfried Kühn (r.) im Gespräch mit Moderator Paul Werner Wagner Andreas Behling Lizenz

Wolfen - Die riesige Lok schiebt sich unaufhaltsam näher. Ein Monstrum, das den kleinen Menschen vor ihr zu zermalmen droht. Der schmale Mann, ein Hänfling geradezu, versucht verzweifelt vor der mächtigen Maschine zu fliehen. Er dreht sich panisch um. Linkisch stolpert er weiter. Fällt ins Gleisbett. Die Lok fast über ihm. Doch der Mann hat sich retten können. Übern Bahndamm ragt sein Kopf, während die Räder im Vordergrund vorwärts donnern.

Es ist eine der Schlüsselszenen im Defa-Film „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow“, den Moderator Paul Werner Wagner gemeinsam mit Regisseur Siegfried Kühn in der Reihe „Film wiederentdeckt“ im Wolfener Industrie- und Filmmuseum präsentierte. Es ist eine dramatische Sequenz, die sich mindestens zweifach interpretieren lässt. Hat zum einen der Mensch weiter die Macht über die Technik oder steht er ihr verloren gegenüber? Und zum anderen: Muss man nicht abgefahrene Schienen, ausgetretene Pfade verlassen, um sich dem Neuen im Leben widmen zu können?

Der Regisseur und Drehbuchautor Siegfried Kühn feierte am 14. März seinen 80. Geburtstag. Seine berufliche Laufbahn begann er als Bergbauingenieur. Ab 1958 studierte er Filmregie.

Wesentlich geprägt wurde er durch seine Zeit am Moskauer Institut für Kinematographie, wo Sergej Gerassimow zu seinen Lehrmeistern gehörte. Einen internationalen Erfolg feierte er 1988 mit dem Film „Die Schauspielerin“. Die Hauptdarstellerin Corinna Harfouch erhielt auf dem Filmfestival Karlovy Vary den Grand Prix als beste Darstellerin. Seit 2010 lebt Kühn im Gutshaus Groß Jehser bei Calau. Dort organisiert er regelmäßige kulturelle Veranstaltungen. Sein schriftliches Archiv befindet sich im Archiv der Akademie der Künste in Berlin. Sein Buch „Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow - Die Entstehungsgeschichte eines Defa-Films“ kann über [email protected] oder [email protected] bezogen werden. Weitere Infos gibt es im Internet unter www.herrenhaus-schloss-grossjehser.de

Angepasst ist Eisenbahner auf keinen Fall

Jener Friedrich Wilhelm Georg Platow, kongenial dargestellt von Fritz Marquardt (1928-2014) und von Wagner ganz zu Recht mit Karl Valentin und Buster Keaton verglichen, sucht diese neue Herausforderung. Erst wirkt er wie ein Doppelgänger des von Carl Spitzweg gemalten armen Poeten: Der Schirm ist zerschlissen. Die abgeschiedene Station, auf der der 57-Jährige seinen Dienst als Schrankenwärter versieht, gleicht eher einer abrissreifen Bruchbude. Dann aber macht er sich auf zur Verkehrsschule und ist auf den Bahnsteigen eines Hauptbahnhofs zu sehen. Angepasst ist der sympathische Eisenbahner jedoch auf keinen Fall. Zwar misslingt es ihm entschieden, sich auf jugendlich zu trimmen - an Stelle seines antriebs-armen Sohnes entschließt sich nämlich der für eine Nebenstrecke vorgesehene Oldie, den Qualifizierungslehrgang zu besuchen -, doch als er auf einer Draisine unterwegs ist, beweist er seinen Kollegen, dass er nicht zum alten Eisen gehört. Zum Schluss schreitet er stolz, die linke Hand in einer eigentümlichen Geste auf den uniformierten Rücken gelegt, gegen den Strom der großstädtischen Menge. Für den Regisseur blieb das ein Lebensthema: Der Mut, den sicheren Weg zu verlassen, den Ausbruch und einen Neubeginn zu wagen. „Mich selbst“, bekannte Kühn, „hätte die Opernregie sehr gereizt.“ Als Wagner fragte, ob ihm der Streifen aus dem Jahr 1973 womöglich wie ein Kind, mit dem man es besonders schwer hatte, ans Herz gewachsen sei, bejahte das sein Gegenüber. Und er verriet, dass nur ein seltsamer, wie aus der Welt gefallen wirkender Kauz wie Fritz Marquardt diesen Platow spielte konnte: „Ein Erwin Geschonneck in dieser Rolle wäre für mich unmöglich gewesen.“

Mit einem anderen Hauptdarsteller hätte die Zeitschrift „Cinema“ wohl kaum von einem „hintergründigen Spaß der Defa“ gesprochen. Derweil stieß der Film bei der DDR-Führung auf Ablehnung. Es wurde angewiesen, dass ihm eine Premiere zu verwehren ist, er nur in kleinen Kinos gespielt werden darf und nach vier Tagen aus dem Programm zu nehmen ist. Eventuell ging den damaligen Bestimmern auch ein Verslein wie dieses zu weit: „Rostig ist die Reichsbahnschiene, wenn ein Zug nicht auf ihr läuft. Frostig ist des Mannes Miene, wenn er ab und zu nicht säuft.“ (mz)