Porträt Porträt: Wohnen in Wolfen-Nord

Wolfen - Es liegt was in der Winterluft. Der Himmel über Wolfen-Nord lebt - ist gar beflügelt. Eine warme Federdecke wirft sich über einen Balkon der dritten Etage in der Wittener Straße 25. Ingeborg Hennig ist unter ihr. Es ist Zeit, die Vögel zu füttern - „ihre“ Vögel inmitten von den WBS 70 - „ihrer“ geliebten Platte im Reich der Genossenschaft.
Eine Lebensmaxime
Der ist Ingeborg Hennig treu geblieben - mehr noch, sie ist die Frau der ersten Stunde. Die schlug 1954 - vor mehr als 60 Jahren. „Einmal Genossenschaftlerin immer Genossenschaftlerin“, lautet die Lebensmaxime der heute 85-Jährigen. Umgezogen ist sie schon oft in ihrem Leben. Aber immer in Wolfen und immer blieb sie unter der Haube der Genossenschaft - die Länge ihrer Mitgliedschaft ist nicht zu toppen.
Alles begann 1954 mit einem Aufruf am schwarzen Brett im Casino der Filmfabrik, erinnert sich Ingeborg Hennig. Und es hieß: anpacken, Steine klopfen. „Da mussten wir selbst ran“, blickt sie zurück. Und mit ihr die ganze Familie. Etwa 2 500 Mark hieß es anzusparen, um ein Reihenhaus mit Garten in der Reudener Straße in Wolfen für die Genossenschaft mit aufzubauen - um Teil vom Ganzen zu sein. Pflichtstunden geleistet, Anteile gekauft - für Ingeborg Hennig war die Wohnwelt immer in Ordnung.
Mit dem Fahrrad radelte die Fotochemiefacharbeiterin zur Arbeit in „die Film“. Wer könne das derzeit noch? Ingeborg Hennig lebt nicht auf dem Mond, sondern heute am Rande von Wolfen-Nord. Sie weiß von den Problemen mit denen auch die Genossenschaft zu kämpfen hat. Menschen ziehen weg. Wolfen-Nord wird kleiner. Füllte einst Beton die grüne Wiese auf, wächst heute Gras über manche Platte. Auch Ingeborg Hennig hat, bevor die Abrissbirne einschlug, die Koffer packen müssen. Ihren Wohnblock in der Emma-Krause-Straße - in den sie als Rentnerin zog - gibt es nicht mehr.
Küche mit Fenster
In der Wittener Straße hat sie sich eingerichtet - in einer Zweiraumwohnung im WBS?70-Typ - mit großem Balkon, Küche mit Fenster. „So lange wie’s geht, bleibe ich hier wohnen.“ Ans Wegziehen aus Wolfen, daran hat sie nie einen Gedanken verschwendet. „Ich bin doch Wolfenerin, am Wasserturm geboren. Und hier habe ich ein Leben lang meine Rente verdient“, sagt sie. Zwei Kinder, sechs Enkel - Ingeborg Hennig - ist stolze Oma. Die kommen, kümmern sich, erzählt sie. „Eigentlich bin ich glücklich.“ Heimat? „So richtig nicht“, meint zumindest Sohn Harald. Für ihn geht vieles bergab in Wolfen, seit dem Zusammenschluss mit Bitterfeld. Allein hätte Wolfen mehr auf die Beine gestellt, ist er sich sicher. Doch darüber heute zu diskutieren, sei müßig. Mit drei Familien teilt sich die 85-Jährige noch das Treppenhaus. Im Laufe der Jahre wurde es immer stiller. Wer weiß, wann die nächsten das Wohngebiet verlassen. Hoffentlich nicht so bald.
Ingeborg Hennigs Kinder sollen nun entscheiden, wann es für sie Zeit ist, wegzugehen, noch einmal umzuziehen. Vielleicht ins betreute Wohnen. Darüber hat die Familie schon nachgedacht. Doch bisher: toi, toi, toi - spielt ein Umzug keine Rolle. Ingeborg Hennig hat sich eingerichtet im Reich der Genossenschaft. Auch, wenn die jetzt einen anderen Namen trägt.
(mz)
